Nach dem Wirtschaftsboom steht der Fall kurz bevor

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Der Aufschwung der letzten Jahre war teuer erkauft. Die Lira verfällt, die Schulden im Land sind hoch, das Vertrauen in die türkische Wirtschaft ist am Boden.

Wien. Recep Tayyip Erdoğan hat den Zeitpunkt für die Wahl geschickt gewählt. Eigentlich hätte der Urnengang erst in eineinhalb Jahren stattfinden sollen – aber da könnte es für Erdoğan, der seinen Erfolg dem Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre verdankt, zu spät sein. Viele Ökonomen und Finanzexperten gehen davon aus, dass der Crash bald bevorsteht. Nur mit einer Feuerwehraktion der Notenbank, die den Leitzins kurzfristig deutlich angehoben hat, konnte der Zusammenbruch kurz vor der Wahl noch verhindert werden. Bei den internationalen Ratingagenturen ist die Türkei längst in Ungnade gefallen.

Dabei sieht es auf den ersten Blick rosig aus: Das Bruttoinlandsprodukt wuchs im ersten Quartal um 7,4 Prozent, das Ziel von 5,5 Prozent für das Gesamtjahr könnte übertroffen werden. Kritiker bemängeln aber, dass die Statistikbehörde Turkstat direkt dem Ministerium für Entwicklung unterstellt ist und daher politisch abhängig. Womöglich sind die Zahlen gar nicht so gut.

Und der Boom ist teuer erkauft. Seit Jahren drängt Erdoğan die – formal unabhängige – Notenbank, die Zinsen niedrig und damit den Aufschwung am Laufen zu halten. Mit einem staatlichen Infrastrukturpaket und Steuererleichterungen kurbelte er den privaten Konsum an, der zum Wachstumstreiber mutierte. Mittlerweile sind Firmen und Haushalte hoch verschuldet. Erschreckende 60 Prozent der Kredite an Private flossen in den vergangenen fünf Jahren in Autos und andere Konsumgüter, sind also nicht mit Sicherheiten wie Immobilien hinterlegt. Die Arbeitslosigkeit stieg bei Jugendlichen zuletzt auf 20 Prozent, die Inflation auf mehr als elf Prozent.

Kampf gegen den Sinkflug der Lira

Wegen des hohen Leistungsbilanzdefizits und mangels Vertrauens internationaler Investoren, die sich hüten, in die Landeswährung zu investieren, befindet sich die türkische Lira auf Talfahrt. Seit Jahresbeginn verlor sie gegenüber US-Dollar und Euro fast ein Fünftel an Wert. Ansagen des Präsidenten, er wolle die Geld- und Währungspolitik stärker kontrollieren, führten zum jüngsten Absturz im Mai. Auf ökonomische Theorie gibt Erdoğan nicht viel: Er ist der Meinung, man könne Inflation mit niedrigen Zinsen bekämpfen. Die meisten Ökonomen denken anders. Mit solchen Aussagen schürt er die Verunsicherung weiter. In seinen Augen ist aber nicht das mangelnde Vertrauen der Investoren schuld am Währungsverfall – sondern eine internationale Verschwörung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2018)

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