Deutsche Odenwaldschule: „Ein geschlossenes System“

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Odenwaldschule bdquoEin geschlossenes Systemldquo(c) APN (Bernd Kammerer)
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Der erste Missbrauchsfall an einer nichtkirchlichen Schule in Deutschland hat eine noch unüberschaubare Größenordnung. Zudem lenkt er den Blick vom religiösen zum pädagogischen Kontext.

In Deutschland nimmt der erste bekannt gewordene Fall von Kindesmissbrauch an einem nichtkirchlichen Internat, der renommierten Odenwaldschule, immer unüberschaubarere Ausmaße an: 24 Schüler (und Schülerinnen), die in den 70er- und 80er-Jahren von Lehrern sexuell missbraucht wurden – einer 400 Mal vom ehemaligen Schulleiter persönlich –, haben sich gemeldet, andere nahmen mit der heutigen Schulleiterin, Margarita Kaufmann, Kontakt auf. Sie hat zum Bilanzieren Briefe an alle 900 Schüler geschickt, die damals die Schule besuchten.

Von diesem Fall kann man sich nicht achselzuckend bis angewidert abwenden, wie von denen der katholischen Kirche, die sich je nach Glaubensnähe oder -ferne als „schwarze Schafe“ verbuchen lassen; oder als Produkte eines Männerbundes, dessen Mitglieder dem Sex abschwören und sich stattdessen dem Gehorsam verpflichten, und dem Schweigen, das auch sie deckt. Diese Schule war eine Reformschule, hoch angesehen, berühmte Schüler hatte sie auch, Klaus Mann etwa und Daniel Cohn-Bendit. Was Letzterer dort erlebt hat, davon ist wenig bekannt, vielleicht haben sie ihn das Revoltieren gelehrt.

„Kinderschänder Cohn-Bendit“

Vielleicht Ärgeres: „Mein ständiger Flirt mit allen Kindern nahm bald erotische Züge an“, berichtete Cohn-Bendit 1975 in „Der Große Basar“ über die Zeit, in der er später selbst Kinder betreute, in einem Kinderladen: „Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln.“

Die Kinder waren fünf Jahre alt, er war irritiert, ließ es zu und streichelte zurück. Seitdem kocht periodisch die Beschimpfung „Kinderschänder Cohn-Bendit“ hoch, jetzt natürlich wieder, manche wollen ihre Sünden (oder die ihrer Brüder) gerne hinter denen anderer vergessen machen, andere sehen die Logik des Augsburger Bischofs Walter Mixa bestätigt, der den sexuellen Missbrauch durch Kirchenmänner der sexuellen Libertinage der 68er zurechnen will (als ob es ihn zuvor nicht gegeben hätte).

Aber die Aufrechnung ist schief und wenig hilfreich. Schief ist sie insofern, als Cohn-Bendit in aller Öffentlichkeit handelte, er publizierte es ja auch. Und von den Kindern hat, soweit bekannt, keines Schaden genommen, manche verteidigten ihn später gegen den „Kinderschänder“-Vorwurf. Er selbst tat es auch, es sei um „Tabubrechen“, „provozieren“ und eine „neue Sexualmoral“ gegangen.

Ja, 68 war eine antiautoritäre Bewegung: Es ging gegen den „autoritären Charakter“ – den, der weder intellektuell noch emotional einen Stand in sich findet, sondern der Außenleitung bedarf, der Prototyp war Heinrich Manns „Untertan“ –, und es ging gegen Strukturen, die Menschen dazu machen, Kirche und Familie gehörten dazu, man hatte es von Wilhelm Reich und Alice Miller („Schwarze Pädagogik“) gelernt.

Aber darum ging es nicht erst Cohn-Bendit, darum ging es auch seiner Schule, die vor hundert Jahren gegründet wurde. Das macht den Fall so verstörend, das lenkt die Missbrauchsdebatte in einen breiteren Kontext. Die Odenwaldschule hatte einen „aufgeschlossenen Geist“ (Cohn-Bendit), sie wollte Persönlichkeiten bilden.

„Pädagogischer Eros“

Und zwar mit aller Liebe der Pädagogen. Die war schon bei Platon, dem Erfinder des „pädagogischen Eros“, auch sexuell, und Missbrauchsfälle an Reform-Internaten sind seit den 20er-Jahren bekannt. Die Gegenrichtung zum „Untertanen“ feit also nicht vor den (nur) ihm zugemuteten Verfehlungen: Der Kern des Problems liegt offenbar im gemeinsamen – nach außen abgeschlossenen – Leben von Schülern und Erziehern (mag es besondere Lehrer-Charaktere anziehen oder Verdrängtes manifest werden lassen). Und dieses Leben gab/gibt es eben am längsten und häufigsten in kirchlichen Schulen.

Der Rest ist vertraut, seit 1999 wurde im Odenwald vertuscht, die Leiterin formulierte es so: „Es war ein geschlossenes System.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2010)

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