Eine hohe Wahlbeteiligung und hohes Misstrauen nach Manipulationsvorwürfen: Der regierenden AKP ist ihre Mehrheit nicht sicher. Die Opposition ging gestärkt in die Doppelwahl.
Istanbul. Die Fahnen schwenkenden Anhänger waren da, die Lautsprecher und die Gesänge vom starken Staatsmann Recep Tayyip Erdoğan auch, selbst die Glückwünsche von Politikern aus dem In- und Ausland trafen ein. Doch der türkische Präsident zögerte am Sonntagabend nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen mit seiner angekündigten Siegesrede. Denn obwohl Erdoğan die Präsidentenwahl laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu mit rund 53 Prozent der Stimmen klar gewann, sagte seine erfolgsverwöhnte Regierungspartei AKP im Vergleich zur letzten Wahl um sieben Prozentpunkte ab und verlor ihre Parlamentsmehrheit. Ab sofort muss Erdoğan mit Hilfe der Nationalisten-Partei MHP regieren.
Die türkische Opposition lief unterdessen Sturm gegen die Teilergebnisse, die Anadolu verbreitet wurden. „Glaubt Anadolu nicht!“, schrieb Erdoğans Herausforderer bei der Präsidentenwahl, Muharrem Ince, auf Twitter. Gerade in sozialen Medien machten Vorwürfe von Wahlbetrug die Runde. Aber nicht überall erwiesen sich die Beschwerden über Unregelmäßigkeiten der Regierungsseite als richtig. So war berichtet worden, dass Unbekannte im südostanatolischen Diyarbakır versucht hätten, tausend Stimmzettel in ein Wahllokal zu schleusen – doch ein kurdischer Parlamentsabgeordneter stellte bei einem Besuch vor Ort fest, dass die Wahlzettel aufgrund eines Missverständnisses angeliefert worden waren.
Im Laufe des Abends glichen sich die Zahlen von Anadolu und der von der Opposition getragene Zählsystem Adil Seçim immer mehr an. Der klare Sieg Erdoğans war demnach unumstritten. Auch bei der Stimmenverteilung der verschiedenen Parteien im Parlament ergab sich rund fünf Stunden nach Schließung der Wahllokale ein einigermaßen übereinstimmendes Bild: Demnach kommt die AKP auf etwa 297 von 600 Sitzen im Parlament und verpasst damit die absolute Mehrheit der Mandate knapp. Sie muss deshalb mit der rechten MHP koalieren, mit der sie ein Wahlbündnis geschlossen hatte. Das Ergebnis könnte eine weitere Verhärtung der türkischen Politik etwa in der Kurdenfrage sein.
Prokurdische Partei überwindet Hürde
Die türkische Opposition verpasste ihr Hauptziel, Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl in eine Stichwahl am 8. Juli zu zwingen und im Parlament eine Mehrheit der Erdoğan-Gegner zusammen zu bringen. Allerdings hat die prokurdische HDP die 10-Prozent–Grenze überwunden und den Einzug ins Parlament geschafft. Andernfalls hätte die AKP rund 50 Sitze mehr im Parlament. Den offiziellen Auszählungen zufolge gestaltet sich die türkische Nationalversammlung mit dem Einzug der HDP und der neu gegründeten, nationalistischen IYI diverser als zuvor.
Der Präsident kann im neuen Präsidialsystem mit weitreichenden Machtbefugnissen regieren, was ihn zur zentralen Figur in der türkischen Politik macht. Der Staatschef kann nun bis zur nächsten Wahl im Jahr 2023 regieren. Wenn Erdoğan nach der Wahl in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist, dann ist er es wegen der einflussreichen Position der ultranationalistischen MHP, mit der er eine Allianz gegründet hat – und nicht wegen der Stärke seiner Gegner.
Nach einem engagierten Wahlkampf, der bei einem Teil der 56 Millionen Wähler eine Wechselstimmung weckte, hoffte die Opposition auf ein Ende der 16-jährigen AKP-Herrschaft. Anders als bei Wahlen in den vergangenen Jahren waren Erdoğan-Gegner überzeugt, dass diesmal eine politische Veränderung in Ankara gelingen könnte. Auch deshalb lag die Wahlbeteiligung bei fast 90 Prozent. In einigen Feriengebieten des Landes leerten sich die Strände, weil viele türkische Urlauber in ihre Heimatregionen fuhren, um ihre Stimme abgeben zu können.
Am Ende reichte es jedoch nicht für Kritiker der Regierungspartei; die Beliebtheit des 64-jährigen bei konservativen Türken ist nicht zu brechen. Vor allem in Großstädten wie Istanbul und Ankara zeigte sich jedoch die Polarisierung der türkischen Gesellschaft deutlich: Hier stimmten jeweils rund die Hälfte der Wähler für und gegen den Präsidenten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2018)