Eine Migrationskrise - oder eine der Politik?

Das Brüsseler Arbeitstreffen von 16 EU-Chefs am Sonntag legte erneut die Unfähigkeit an Europas Spitze offen, zum Wohle der Bürger unbequeme Entscheidungen zu treffen.

Senegal-Japan sticht Europas Migrationskrise - zumindest in der persönlichen Wertung von Boiko Borissow, dem bulgarischen Ministerpräsidenten, dessen Land noch eine Woche lang den EU-Ratsvorsitz führt. Während des eilig einberufenen Arbeitstreffens von 16 Staats- und Regierungschefs zu Fragen der Migration und des Asylrechts verließ er am Sonntagnachmittag die Sitzung, um sich die besagte Punkteteilung in der Fußball-WM-Gruppe H anzuschauen.

In gewisser Hinsicht war dieser Abgang, den man unter anderen Umständen als schwere diplomatische Sottise bewerten würde, ehrlicher als das Auftreten vieler der anderen 15 Amtskollegen Borissows. Die teils persönlichen Beleidigungen, Untergriffe und Drohungen, die man einander im Vorfeld dieses Treffens zwischen Rom und Paris und Madrid und Berlin und München zugestellt hat, ließen schon im Vorhinein an der Sinnhaftigkeit dieser Veranstaltung zweifeln.

Aber ist es wirklich zutreffend, von einer "Migrationskrise" zu sprechen? Kriselt es nicht vielmehr in der Politik, genauer: in Europas Chefetage? Gewiss gibt es in Europa eine große Zahl an undokumentierten Migranten, die sich illegal hier aufhalten. Und gewiss kommen noch immer zu viele, die keinen Anspruch auf Schutz vor Verfolgung haben, unter Ausnutzung des Asylrechts. Aber wir haben es heute mit ganz anderen Dimensionen zu tun als im wirklichen Krisenjahr 2015: 97 Prozent weniger als damals kommen aus der Türkei, über die zentrale Mittelmeerroute sank der Zustrom in den ersten sechs Monaten des heurigen Jahres um 77 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Der gegenwärtige Migrationsdruck auf Europa ist aushaltbar - vorausgesetzt, die Chefs der Regierungen sind guten Willens und zum Eingeständnis einiger unbequemer Wahrheiten bereit. Die wären, unter anderem: Das Dublin-System ist unpraktikabel - ebenso wie eine zwangsweise Verteilung von Asylsuchenden per Quote. Der Reiz Europas für Afrikas Jugend wird nicht verblassen. Tendenziell 25 bis 45 Millionen Afrikaner wollen weg, gab ein hoher Diplomat eines seit Langem mit klandestiner Zuwanderung ringenden Mittelmeerstaates neulich im Gespräch mit der "Presse" zu denken. Natürlich können die nicht alle kommen. Aber legale Wege der dauerhaften oder zeitweiligen Zuwanderung muss es geben - auch im Interesse einer Union, die vielerorts keine Arbeitskräfte für bestimmte Tätigkeiten findet.

Und vor allem gibt es eine unbequeme Wahrheit, die sich an bayrischen oder österreichischen Stammtischen nur wenige Politiker zu sagen trauen: die Außengrenzen kann man noch so gut zu schützen versuchen - verlaufen sie auf hoher See, sind sie nicht lückenlos kontrollierbar. Dazu braucht es die Hilfe der Staaten an den nordafrikanischen Küsten des Mittelmeers: und die wird viel, viel Geld kosten.

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