Bis zur Wahl hat Erdoğan die Wirtschaft des Landes künstlich aufgebläht. Sein Spiel ging auf. Um jetzt den Crash zu verhindern, braucht die Türkei eine 180-Grad-Wende ihres Präsidenten.
Wien. Nach dem Wahlsieg am Sonntag steht Recep Tayyip Erdoğan zwar auf dem Gipfel seiner politischen Karriere. Gleichzeitig steht der neue, alte türkische Präsident aber auch vor den Trümmern seiner eigenen Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre. Denn als Erdoğan vorgezogene Wahlen angekündigt hatte, wussten Analysten rasch Bescheid. Der Machthaber hatte die drohende Finanzkrise seines Landes erkannt und wollte noch schnell wiedergewählt werden, solange die Türkei wirtschaftlich noch im Aufwind war.
Und der AKP-Politiker hat einiges darangesetzt, dass sich das ausgeht. Mit einer Kombination aus viel zu billigen Krediten, einem künstlichen Bauboom und milliardenschweren Staatsausgaben blähte er die Wirtschaft weit über ihr Potenzial hinaus auf. Das Ergebnis: Die türkische Volkswirtschaft wuchs im Vorjahr schneller als jene in China – und der „Wohlstandsbringer“ Erdoğan konnte seinen Wahlsieg einfahren.
Türkische Firmen verschuldet
Und jetzt? Bleibt Erdoğan seiner Linie treu, oder beginnt er doch die notwendigen wirtschaftlichen Aufräumarbeiten? Nach ein paar starken Jahren unter seiner Herrschaft sind die Schäden seiner Wirtschaftspolitik nicht länger zu übersehen: Die Arbeitslosenrate ist mit elf Prozent wieder da, wo sie in der Krise 2002/2003 war. Die Inflation stieg zuletzt deutlich über zehn Prozent, das Handelsbilanzdefizit explodierte auf 40,3 Milliarden Euro im vergangenen Jahr, und die Zinsen sind immer noch viel zu niedrig, um den Verfall der Lira zu stoppen. Die türkische Währung hat seit 2013 rund 60 Prozent ihres Wertes verloren. Auch am Dienstag wurde die Lira schwächer.
Die Türkei ist besonders verwundbar, da das rasante Wachstum überwiegend mit ausländischem Kapital finanziert wurde. Sehen die Investoren nun anderswo höhere, sicherere Renditen – wie es etwa bei einem weiteren Zinsanstieg in den USA der Fall wäre –, sind die Mittel schnell wieder weg. Zudem haben türkische Unternehmen enorm hohe Dollar- und Eurokredite aufgenommen. Für sie ist die aktuelle Zinspolitik, die die längst nicht mehr unabhängige Zentralbank auf Erdoğans Zuruf fährt, eine Katastrophe. Üblicherweise müsste die Zentralbank Zinsen anheben, um Überhitzung, Inflation und Währungsverfall entgegenzuwirken. Erdoğan hält von alledem nichts und fordert weiter billiges Geld für „seinen“ Aufschwung. Mit dem Resultat, dass die Lira im Vorjahr um ein Fünftel gegenüber dem US-Dollar fiel, was die Schulden der Unternehmen weiter in die Höhe treibt. Aktuell liegen die Auslandsschulden des Landes bei gewaltigen 388,2 Milliarden Euro.
Der Herr über die Zinsen?
Um den drohenden Kollaps der türkischen Volkswirtschaft zu verhindern, braucht es jetzt eine 180-Grad-Wende des Präsidenten. Erdoğan müsste die Staatsausgaben nach unten fahren und dürfte keine Infrastrukturprojekte mehr auf Pump finanzieren. Zudem müsste er zulassen, dass die Nationalbank die grassierende Inflation bekämpfen darf. Die „operative Unabhängigkeit der Zentralbank ist essenziell“, schreibt auch die europäische Entwicklungsbank.
Groß sind die Hoffnungen in einen plötzlichen Gesinnungswandel allerdings nicht. Zu fest ist sein Glaube daran, dass billiges Geld der Türkei quasi grenzenloses Wachstum ermöglicht. Die Tatsache, dass unter anderem der IWF ein Wachstum von vier statt über sieben Prozent als gerade noch verträglich für die türkische Wirtschaft ansieht, ficht ihn nicht an. Weder beim Militär noch bei den Prestigeprojekten werden ihm echte Einschnitte zugetraut. Im Gegenteil: Erst vor wenigen Wochen kündigte er ein milliardenschweres Konjunkturpaket an.
Und die Zinsen? Hier könnten die schlimmsten Befürchtungen der Investoren Realität werden: Erdoğan vertritt die unorthodoxe Ansicht, dass hohe Zinsen die Inflation antreiben. Die Notenbank sieht das – wie alle anderen Ökonomen – freilich anders. Doch es ist fraglich, ob ihre Stimme noch irgendein Gewicht haben wird. Schon vor der Wahl hat Erdoğan wenig Zweifel gelassen, dass er sich im Falle seines Wahlsieges höchstpersönlich um die Zinsen im Land kümmern will.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2018)