Gastkommentar

Die Revolte des Papst Franziskus

Manche Gedanken des jetzigen Papstes lassen ein Zugehen auf die mystische Bewegung der Chassiden vermuten.

Der bedeutende russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg (1891-1967) ist viel gereist und hat viel publiziert. 1928 ist er in Polen, worüber er in seinem erstmals 1929 publizierten Büchlein „Visum der Zeit“ schreibt. In der Gegend der Woiwodschaftshauptstadt Chełm sind ihm Chassiden (fromme Juden) begegnet, wobei ihm „viel Ähnlichkeit mit der franziskanischen Bewegung unter den Katholiken“ aufgefallen ist. Gemeinsam sei beiden der Glaube an die Gesamtheit der „Schöpfung“. Selbst das Böse betrachte der Chassidismus als einen Teil des göttlichen Prinzips.

Die volkstümliche und religiös mystische Bewegung der Chassiden ist Mitte des 18. Jahrhunderts nach der Philosophie von Rabbi Israel ben Elieser (1698-1760) genannt Baal-Schem (Bescht) entstanden, und zwar, wie Ehrenburg schreibt, „aus der Übersättigung mit Büchergelehrsamkeit und aus dem Hunger nach lebendigem Leben“ und „inmitten einfältiger Ausschweifungen des polnischen Krähwinkel-Adels, inmitten dösender, stumpfer Bauern, inmitten von Bettelarmut“.

Ehrenburg übersetzt den Inhalt des Chassidismus in die Umgangssprache der Armenbevölkerung kleiner Ortschaften so: „Es lebe das Leben!“ Bescht soll 36 Sprachen gesprochen haben, keine gewöhnlichen, sondern unter anderem die Sprache der Vögel. Wichtig sei dem Chassidismus die Reinheit der Gefühle gewesen, man könne statt in der Synagoge auch im Wald beten.

 

Eine Art Leitbild

Am 13. März 2013 hat sich der argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio aus den vielen möglichen Namen von Heiligen der römisch-katholischen Kirche als Papst den Namen Franziskus in Erinnerung an den 1226 verstorbenen Franz von Assisi gegeben. Er nennt diesen in seiner Enzyklika „Laudato si'“ (2015), die mit einem Lobgesang von Franz von Assisi beginnt, „eine Art Leitbild“. In seinem Rundschreiben „Freut euch und jubelt“ (2018) erzählt Papst Franziskus, dass Franz von Assisi „Gott allein wegen der Windbrise, die sein Gesicht streichelte, glücklich lobpreisen“ konnte.

 

Dienst an den Armen

Franz von Assisi hat sich an der Wende zum 13. Jahrhundert als Wanderprediger dem Dienst an den Armen gewidmet. Er hat christliche Anliegen den rechnenden Interessen der herrschenden Klasse mit unkämpferischem Anderssein entgegengestellt. Die Zeit von Franz von Assisi war eine Zeit gesellschaftlicher und geistiger Umwälzungen, eine Zwischenzeit, wie sie die Gegenwart mit Papst Franziskus ist und wie sie in der Zeit der Chassiden war.

Papst Franziskus ist voll von Widersprüchen. In manchen seiner Gedanken lässt sich ein Zugehen zu jenem Chassidismus annehmen, wie Ilja Ehrenburg diesen geschildert hat. Papst Franziskus will nicht, dass die katholische Kirche mit dem akademischen Wissen aus den privilegierten theologischen Fakultäten der Universitäten vom Volk abgesondert wird.

Papst Franziskus „revoltiert“ gegen das satte und selbstzufriedene System der Katholischen Kirche, in der er selbst groß geworden ist. Seine Gegner aus der traditionellen Theologie machen in oft gehässiger Weise gegen ihn mobil.

Es ist gewiss kein Zufall, dass Religionen mit mystischen Orientierungsmöglichkeiten an Boden gewinnen, weil sie die Illusion wecken, die von Hass und Gier bestimmte Gegenwart zu vermenschlichen. Eine neue Welt wird dadurch nicht möglich werden.

Gerhard Oberkofler (* 1941 in Innsbruck) ist Universitätsprofessor i. R. und Wissenschaftshistoriker. Im trafo Wissenschaftsverlag Berlin ist gerade seine Schrift „Geben befreiungstheologische Positionen von Papst Franziskus zur Hoffnung Anlass?“ erschienen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2018)


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