Angela Merkel dürfte in der Nacht auf Freitag den Kopf aus der Schlinge ihres Unionspartners gezogen haben. Die fundamentale Frage, wie in Europa Asylwerber verteilt werden, blieb aber offen.
Das mühselig in den frühen Morgenstunden des Freitags errungene Ergebnis des Europäischen Rates muss man unter zwei Gesichtspunkten betrachten: dem innenpolitisch-deutschen, und dem europäischen.
In erster Hinsicht war dieses Gipfeltreffen vermutlich ein Erfolg. Mehrere Vertreter der CSU, des rauflustigen Bündnispartners von Kanzlerin Angela Merkels CDU, äußerten sich zufrieden. Merkel dürfte dem Zerfall ihrer Regierungskoalition und somit ihrem Sturz aus dem Kanzleramt entgangen sein.
In sachpolitischer Hinsicht allerdings sind mehrere Gründe zur Sorge angebracht. Erstens: in welchen nordafrikanischen Staaten sollen die "regionalen Ausschiffungsplattformen" eröffnet werden, wo jene Menschen, die auf hoher See gerettet werden, an Land gebracht werden? Bisher haben das die in Frage kommenden Maghrebstaaten abgelehnt. Wenn das bloß eine taktische Verhandlungsposition ist, um der EU einen möglichst hohen Preis für die Errichtung dieser Lager und des verstärkten Vorgehens ihrer Küstenwachen gegen die Schlepperboote herauszulocken, dann sind sich die Europäer hoffentlich dessen bewusst, dass ihr Plan, das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler zu brechen, teuer sein wird.
Zweitens: Wie sollen die "kontrollierten Zentren" gestaltet sein, in denen auf EU-Boden zwischen irregulären Migranten und tatsächlich Asylberechtigten unterschieden werden soll? Sie werden praktischerweise in den Anrainerstaaten des Mittelmeers einzurichten sein, in Italien, Frankreich, Spanien, Griechenland, Malta, Zypern. Doch noch hat keiner der Regierungschefs dieser Gruppe erklärt, "auf rein freiwilliger Basis" so ein Lager errichten zu wollen.
Drittens ist das Hauptproblem der europäischen Asylpolitik weiterhin ungelöst: wie verteilt man jene, die in solchen "kontrollierten Zentren" am Mittelmeerküstensaum Schutz erhalten, auf alle Mitgliedstaaten? "Alle Maßnahmen im Zusammenhang mit diesen kontrollierten Zentren, einschließlich der Umsiedlung und der Neuansiedlung, erfolgen auf freiwilliger Basis, unbeschadet der Dublin-Reform", heißt es in den Schlussfolgerungen. Ein Kniefall vor den Osteuropäern, die sich schon bisher gegen die - von den Innenministern rechtskräftig beschlossenen - Asylwerberquoten gesperrt hatten.
Die Dublin-Reform hat man erneut ganz weit hinaus auf die längste aller Banken geschoben. Auf dem Europäischen Rat im Oktober soll es einen Fortschrittsbericht geben. Für die Erzielung dieser Fortschritte wird Bundeskanzler Sebastian Kurz verantwortlich sein. Ob es ihm gelingen wird, die bisher unvereinbaren Interessen der Ankunfts- und der Zielländer der Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge zu versöhnen, wird die Schlüsselfrage des österreichischen Ratsvorsitzes sein.