Kanzler Kurz fühlt sich durch die Beschlüsse zur Asylpolitik bestätigt. Nun trägt er die Verantwortung, den vagen Worten konkrete Taten folgen zu lassen.
Brüssel. Die Sondersitzung im Nationalrat zwang den Bundeskanzler dazu, den Europäischen Rat in Brüssel am Freitag schon vor dessen Ende zu verlassen. Doch sein erhofftes Ergebnis hatte Sebastian Kurz längst erreicht, als er knapp nach 13.30 Uhr die Dienstlimousine in Richtung Flughafen Zaventem bestieg, um das Flugzeug nach Wien zu erwischen: Die Debatte über Migration und Asyl setzt in Europa nun zuerst an der Sicherung der Außengrenzen der Union an. Die leidige Streiterei darüber, wie Asylbewerber auf die Mitgliedstaaten verteilt werden, ist fürs Erste unter den Teppich gekehrt. „Ich bin froh, dass es zu einer Trendwende in der europäischen Migrationspolitik gekommen ist“, diktierte Kurz den Journalisten in die Notizblöcke. „Das australische Modell sollte Vorbild sein.“
Doch bei näherer Betrachtung ist die Einigung, welche die 28 Staats- und Regierungschefs in zähem neunstündigem Ringen erst um knapp vor fünf Uhr morgens errungen hatten, eine reine Absichtsbekundung. „Es ist viel zu früh, von einem Erfolg zu reden“, warnte Donald Tusk, der Präsident des Europäischen Rates. „Das hier war der einfachste Teil.“
Denn erstens ist offen, wo und in welcher Form jene „regionalen Ausschiffungsplattformen“ eröffnet werden sollen, zu denen jene Menschen, die auf hoher See noch außerhalb der Hoheitsgewässer von EU-Mitgliedstaaten gerettet werden, zurückgebracht werden sollen. Ungeklärt ist, wer genau mit den Regierungen der nordafrikanischen Staaten verhandeln soll. Und die Rechnung dafür, dass Europa das Migrationsproblem in den Maghreb auslagert, hat auch noch niemand zu eröffnen gewagt.
Zweitens hat sich bisher kein einziges der am Mittelmeer liegenden Unionsmitglieder dazu bereit erklärt, eines jener „kontrollierten Zentren“ zu eröffnen, in denen all jene Wirtschaftsmigranten und Flüchtlinge, die von europäisch beflaggten Schiffen oder in europäischen Gewässern aufgelesen werden, der Entscheidung über ihren Aufenthaltsstatus harren sollen.
„Australisches Modell keine Option“
Drittens ist das Hauptproblem der europäischen Asylpolitik weiterhin ungelöst: Wie verteilt man jene, die rechtskräftigen Asylschutz erhalten, auf alle Mitgliedstaaten? Denn dass vor allem Italiens neue national-populistische Regierung nicht gewillt ist, gemäß den Grundsätzen der Dublin-Verordnung über die Gewährung von Asyl in der EU für all diese Menschen dauerhaft zuständig zu bleiben, wurde bei diesem Gipfeltreffen klar. Ministerpräsident Giuseppe Conte drohte bei seiner Brüsseler Premiere mit einem Veto gegen den gemeinsamen Beschluss; dass die Version, welcher er letztlich zustimmte, nichts an der geltenden Lage ändert, schwächt die Symbolkraft seines forschen Auftretens nicht.
All dies in konkrete Politik umzusetzen, obliegt während des nun beginnenden Ratsvorsitzes Österreichs dem Bundeskanzler. Die größte Baustelle ist die Dublin-Reform. Bis Oktober soll es zumindest einen Fortschrittsbericht geben. Doch in Brüssel bezweifelt man, dass dies möglich sein wird. Und es mehren sich auch erste Bedenken an der Inszenierung des Kanzlers. „Das australische Modell ist keine Option“, sagte ein hoher europäischer Funktionär zur „Presse“. Auch habe es keine Trendwende gegeben. Man arbeite vielmehr auf Basis von Vorschlägen, die schon länger zwischen den Regierungen und der Europäischen Kommission diskutiert werden. Zu EU-Gipfeln aber gehöre die politische Inszenierung: „Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was die Leute im Sitzungssaal sagen, und dem, was sie draußen verkünden.“
Andere Aufgaben
Brexit. Der EU-Austritt Großbritanniens ist neben der Migrationsfrage der zweite große Brocken der österreichischen Ratspräsidentschaft. Brüssel mahnt London zur Eile, weil viele wichtige Themen wie die Nordirland-Frage noch nicht geklärt sind. Ende März 2019 wird Großbritannien die Europäische Union verlassen.
EU-Budget. In unmittelbarem Zusammenhang mit dem Brexit – und damit dem Wegfall der britischen Beiträge ins Budget – stehen die Diskussionen zum mehrjährigen Finanzrahmen, die wegen zahlreicher Streitfragen unter österreichischer Präsidentschaft nicht abgeschlossen werden können.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2018)