Leitartikel

Merkels Taschenspielertrick

Die deutsche Kanzlerin will ihre Koalition und die Union mit einer Luftakrobatiknummer retten. Mit bilateralen Deals verkauft sie den Rechtsanspruch auf Zurückweisung von Dublin-Fällen neu.

Der Aufwand ist enorm. Um ihren Koalitionsstreit mit CSU-Innenminister Horst Seehofer beizulegen, spannt die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, halb Europa ein. Sie holte sich Zusagen von zahlreichen EU-Staaten, die Rückführung von Asylwerbern zu beschleunigen, die bereits anderswo einen Erstantrag gestellt haben. An sich wäre das alles in der Dublin-Verordnung geregelt. Doch das Procedere dauert zu lange, und am Ende bleibt Deutschland oft auf Flüchtlingen sitzen. Seehofer hätte gern kurzen Prozess gemacht und Asylreisende, die schon in einem anderen EU-Staat registriert wurden, gleich an der Grenze zurückgeschoben. Merkel lehnte ab. Und weil Seehofer nicht nachgab, steht nun viel auf dem Spiel: das Bündnis zwischen CDU und CSU, die Koalition und die Karrieren von Seehofer und Merkel.

Eine Entscheidung soll spätestens am Montag fallen. Das Zauberwort heißt „wirkungsadäquat“: Seehofer muss entscheiden, ob Merkels kleine bilaterale Deals die gleiche Wirkung entfalten wie seine geplanten Zurückweisungen, ob er bei Merkels Taschenspielertrick applaudierend assistiert oder den Vorhang fallen lässt. Denn es ist lediglich eine illusionistische David-Copperfield-Nummer, die Deutschlands Kanzlerin in Brüssel mit gütiger Hilfe einzelner Regierungen aus dem Hut gezaubert hat. Sie verkauft das vage Versprechen, den bestehenden Rechtsanspruch auf Rücküberstellung von Asylwerbern schneller als bisher durchzusetzen, als Errungenschaft. Dabei nützt die CDU-Chefin einen Technokraten-Paragrafen in der Dublin-Verordnung und trägt die Aussicht auf Verwaltungsvereinbarungen großspurig als bilaterale Abkommen zu Markte. So funktioniert Politik bisweilen: als juristisch versierte Luftakrobatik.

Beim EU-Gipfel waren die Regierungschefs insbesondere damit beschäftigt, Luftschlösser zu bauen und gescheiterte Ideen neu zu verpacken. Die „Ausschiffungsplattformen“, in die Mittelmeer-Flüchtlinge künftig zurückgebracht werden sollen, existieren nur auf dem Papier; kein einziger nordafrikanischer Staat hat zugestimmt. Und die „kontrollierten Zentren“ für Flüchtlinge, die Europa dann freiwillig verteilen soll, haben schon als „Hotspots“ unter Zwangsandrohung nicht funktioniert.

Auch beim Zwist zwischen Merkel und Seehofer zählt zuvorderst der Staub, der aufgewirbelt wird. Doch es gibt wenigstens ein reales Substrat: Von den rund 90.000 Asylwerbern, die im ersten Halbjahr einen Antrag in Deutschland stellten, schien ein Fünftel in der Eurodac-Datei auf, hätte also anderswo um Asyl ansuchen müssen.

Seehofer führt den Zirkus nicht nur auf, weil die CSU im Herbst in Bayern eine absolute Mehrheit zu verteidigen hat. Es mag bei ihm auch Reue mitspielen, im Flüchtlingsherbst 2015 Merkel nicht energischer in den Arm gefallen zu sein. Vor allem aber ist der Migrationsstreit Ausdruck eines Richtungskampfs in der Union, der an Heftigkeit zunehmen wird, je näher das unweigerliche Ende der Ära Merkel rückt. Es geht um die Frage, ob die CDU die Mitte halten oder weiter nach rechts rücken soll, um der AfD das Wasser abzugraben. Die Antwort kann Europa verändern.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2018)

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