Harte Fakten über die Welt – als Glücksdroge für den Strand

Es ging der Menschheit noch nie so gut wie heute, weist Johan Norberg in „Progress“ nach. Der schwedische Wirtschaftshistoriker verbreitet ansteckenden Optimismus ohne Naivität. Ein Anreger für gute Gedanken im Liegestuhl.

Im Sommerurlaub wollen wir abschalten. Für einige Wochen die schlimmen Dinge vergessen, die uns alle bedrohen. Wenn wir diese Zeit zum Lesen nutzen, dann flüchten wir in die Welt der Fantasie. Denn Sachbücher über den lamentablen Zustand der Welt würden uns doch nur die Ferienlaune verderben. Oder etwa nicht?

Johan Norberg beweist das genaue Gegenteil. In „Progress“ behandelt der schwedische Wirtschaftshistoriker die schwersten Themen – und doch wird seinen Lesern dabei ganz leicht ums Herz. Der 44-jährige Hardcore-Optimist weist nämlich mit sauberen Fakten, seriösen Kurven und verbürgten Anekdoten nach, dass es der Menschheit noch nie so gut gegangen ist wie heute. Und zwar in so ziemlich jeder Hinsicht: Die Lebenserwartung steigt. Armut, Hunger, Seuchen und Gewalt gehen zurück. Die Umwelt wird sauberer, immer mehr Menschen können lesen und schreiben. Einst unterdrückte Minderheiten gewinnen Rechte. Die Sklaverei, früher weltweit üblich, ist heute weltweit abgeschafft.

Was die Denker der Aufklärer einst erhofften, hat sich erfüllt, über ihre kühnsten Erwartungen hinaus. Im Paarlauf haben wissenschaftlicher Fortschritt und steigender Wohlstand diese Wunder möglich gemacht. Und der Trend ist ungebrochen.

Diese Botschaft hat auch die Rezensenten von „The Economist“, dem „Observer“ und dem „Guardian“ glücklich gemacht – sie haben die englische Version zum Buch des Jahres gekürt. Auf Deutsch erschienen ist es noch nicht, aber das sollte nicht stören, es ist ferientauglich leicht zu lesen.

„Wusstest du, dass . . .?“: Hier ein paar konkrete Kostproben, die auch für das Strandgeplauder taugen. Im Jahr 1900 wurde der Erdenmensch im Schnitt 31 Jahre alt, heute kann er mit 71 Lebensjahren rechnen. Die Mordrate war in der Steinzeit 500 Mal höher als heute, in den vergangenen Jahrzehnten hat sie sich noch einmal halbiert.

Die Zahl der Kriegsopfer nimmt von Generation zu Generation ab. Die Londoner litten in den 1950er-Jahren schrecklich unter Smog, heute ist er kein Thema mehr. Im Versailles des Sonnenkönigs stanken die Gänge so erbärmlich nach Urin und Kot, dass die 68 Prozent unserer Zeitgenossen mit Sanitäranschlüssen nicht mit ihm tauschen würden. Das Europa des 19. Jahrhunderts, das uns in Romanen jener Epoche als romantisches Idyll erscheint, war ärmer als heute Afrika südlich der Sahara. Weltweit lebten damals 94 Prozent der Menschen in extremer Armut (von weniger als zwei Dollar in heutiger Kaufkraft), 1990 lag ihr Anteil noch bei 37 Prozent, bis heute ist er unter zehn Prozent gesunken.

Da werden sich jetzt manche die Augen reiben, als wäre Sand oder Sonnenöl hineingeraten. Zum Trost: Sie sind nicht allein. Auf die Frage, ob sich der Anteil der Armen in den vergangenen beiden Jahrzehnten halbiert, verdoppelt oder nicht verändert hat, geben nur fünf Prozent der Amerikaner die richtige Antwort. Schimpansen, spottet Norberg, könnten nur raten und würden dabei deutlich besser abschneiden. Aber warum liegen wir in unserer Einschätzung so falsch? Weil wir uns von Schlagzeilen leiten lassen, die uns jeden Tag von neuen Katastrophen berichten. Statt auf Headlines sollten wir lieber auf Trendlinien schauen. Dass man sie nur in Zeitungen nicht findet, sollte man uns Journalisten aber nicht anlasten. Mal ehrlich, würden Sie einen Artikel mit dem Titel lesen: „40 Millionen Flugzeuge sind im Vorjahr sicher gelandet“?

Kontroverser ist die Erwartung, dass wir auch einer goldenen Zukunft entgegengehen. Aber auch sein unverfrorener Optimismus hat gute Gründe: Noch nie hatten so viele Menschen Zugang zu Wissen, konnten über die Lösung vertrackter Probleme (wie dem Klimawandel) mitdenken. Wenn wir Rechtssicherheit für Privateigentum, freien Handel und den Austausch von Ideen weiter zulassen, spreche nichts dagegen, dass die Menschheit ihre Erfolgsgeschichte fortschreibt. Wenn. Und damit liegt auch über dem sonnigsten Sachbuch des Sommers ein Schatten, der uns auch nach der Heimkehr in den Alltag begleiten darf.

Das Buch

Johan Norberg:
„Progress – Ten Reasons to Look Forward to the Future“.

Verlag: One World, 246 Seiten.

Sprache: Bisher nur auf Englisch erschienen.

Preis:
9,99 Euro bei
Amazon.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2018)

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