EU-Bildungskommissarin Vassiliou hat Verständnis für die Proteste gegen das Bologna-Studiensystem. Ex-Wissenschaftsminister Einem äußert sich ähnlich. Bei der Umsetzung sei "vieles nicht gelungen".
Während die mehr als 40 europäischen Bildungsminister in Wien das "Bologna-System" feiern, zeigt EU-Bildungskommissarin Androulla Vassiliou Verständnis für die Demonstrationen der Studenten . Ex-Wissenschaftsminister Kaspar Einem (SPÖ), der 1999 noch die Bologna-Deklaration unterschrieben hat, äußert sich ähnlich. Die Proteste würden sich "zum Teil gegen einen Popanz richten, der zwar nicht Bologna ist, aber es gibt Probleme, die durchaus ernst zu nehmen sind." Es seien "viele Dinge gelaufen, die heute ein Ergebnis produzieren, wo viel Reformbedarf besteht." Was den Bologna-Prozess betrifft, so sei "ein bisschen was vorangegangen, est ist aber auch vieles nicht gelungen", sagt Einem. Dennoch würde er heute nochmals die Schaffung einer vergleichbaren Struktur in Europa vereinbaren, nicht mehr jedoch "diese ausschließliche Ausrichtung auf die Arbeitsmarktfähigkeit, weil damit die Bildung zu kurz kommt, sagte der Ex-Wissenschaftsminister am Rande der Bologna-Konferenz.
Mehrere tausend Teilnehmer sind Mitte März vom Westbahnhof über die Mariahilfer Straße, die ehemalige Zweierlinie und die Ringstraße gezogen, um gegen das Bologna-Studiensystem und die Jubiläumskonferenz zu zehn Jahren Bologna-Prozess zu protestieren. VON BERNADETTE BAYRHAMMER UND GÜNTER FELBERMAYER Nach einem verhältnismäßig ruhigen Start mit zwei- bis dreitausend Demonstranten am Christian-Broda-Platz wuchs der Protest bis am Abend an. Die Polizei sprach gegen Ende der Demo von etwa 3200 Teilnehmern, die Organisatoren der Demo gar von zehn- bis zwölftausend. (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer) Beim Parlament veranstalteten mehrere hundert Personen einen mehrminütigen Flashmob, stürmten die Rampen hinauf und enthüllten Transparente. Per Polizisten-Kette wurde die Parlamentsrampe geräumt. Ansonsten verlief die Demonstration ohne Zwischenfälle. "Wir sind hier, und wir bleiben", war der Tenor. Viele Studenten sehen den Protest als Wiederaufleben der Demonstrationen vom Herbst. "Bildung für alle, und zwar umsonst" und ähnliche Parolen erinnerten an die Demos, die auf die Audimax-Besetzung folgten. (c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER) Die Studentenprotestbewegung wird bei der Aktion unter dem Motto "Bologna Burns" von 63 Organisationen unterstützt. Darunter die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH), die Globalisierungskritiker von Attac, die Wiener Grünen, Gewerkschaftsvertreter und mehrere sozialistische und kommunistische Verbände. (c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER) Der Grüne Kandidat für die Wiener Gemeinderatswahl, Autor Klaus Werner-Lobo, sieht die Demonstration als Zeichen für das Wiederaufleben des Protests gegen Bildungs- und Sozialabbau. "Und das wird noch mehr werden", sagt er (zum Interview). Auf dem Christian-Broda-Platz kam bei der Auftaktkundgebung nur langsam Stimmung auf. Demonstranten schwenkten mit klammen Fingern Transparente. Vereinzelte Pfeifkonzerte und Parolen ("Make Bologna History") wurden kurz vor dem Abmarsch Richtung Ring lauter. (c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER) Per Plakat kritisierten Demonstranten das Bologna-Studiensystem (mehr dazu: Bologna von A bis Z). Das neue System soll vom neuen "Bachelor" über den "Master" bis zum "Doktor" führen und die Studien im europäischen Hochschulraum vergleichbar machen. Die verpflichtende Studieneingangsphase (STEP) behindere den Studienfortgang gleich zu Beginn, kritisieren Studenten. (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer) Am Podium ging es unterdessen vielsprachig zu. Neben der linken ÖH-Chefin Eva Maltschnig (die neben dem Bologna-Prozess auch die Studienbedingungen im Allgemeinen kritisierte und dazu aus dem Studierenden-Sozialreport zitierte) waren Vertreter aus Italien, Serbien, Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern geladen. (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer) Aus Italien reiste eine rund 200-köpfige Delegation an. Aktivistin Sandy Veli aus Rom von dem Studenten-Netzwerk UniRiot freut sich über die Gelegenheit "zu sehen, was die anderen so machen". Italien sei das erste Land gewesen, in dem Bologna implementiert wurde, nun gehe es darum, sich international zu vernetzen. Sprachwissenschafts-Student Jakob (Mitte) will zeigen "dass wir uns nicht alles gefallen lassen". Ob "Bologna Geschichte" wird, wie das die Demo fordert? "So naiv bin ich nicht", sagt Jakob. Eine andere Umsetzung wäre aber wünschenswert. "Die Verschulung" kritisiert Politik- und Internationale Entwicklung-Studentin Iris (links) am meisten am Bologna-System. Kritisches Denken werde nicht mehr gefördert, alles drehe sich um einen "schnellen Abschluss". Nach der Auftakt-Kundgebung und einem kleinen Tänzchen (zum Aufwärmen) ziehen die Studenten über die Mariahilfer Straße ... ... und die ehemalige 2er-Linie zum Hauptgebäude der Universität Wien und von dort zum Parlament. Dort findet besagter Flashmob statt. Die Polizei drängt die Demonstranten von der Rampe, diese ziehen weiter in Richtung Hofburg ... ... wo vor verschlossenen Türen eine kurze Abschlusskundgebung stattfindet. Per Jingle werden noch Anweisungen gegeben, wie man sich bei der geplanten Blockade der anreisenden Minister zu verhalten hat (keine Gewalt, in Sechsergruppen aufteilen) und was man zu befürchten hat (Verwaltungsstrafe). Dann ist die Demo offiziell beendet. Viele Teilnehmer schließen sich einem der farblich gekennzeichneten Blöcke an, die sich aufmachen, den Ministern, die am Abend aus Budapest anreisen, den Weg in die Hofburg zu versperren und ihnen dadurch zu zeigen, was "Zugangsbeschränkungen" sind. Rund 150 Personen blockieren tanzend und trommelnd den Ring, es kommt zu kurzfristigen Wortgefechten mit Autofahrern. Die Polizei greift ein, als ein Einsatzfahrzeug ebenfalls blockiert wird, einige Demonstranten werden weggetragen, der Rest beendet kurz danach die Blockade freiwillig. Mehr Bilder von der Demonstration ... (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer) (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer) (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer) (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer) (c) DiePresse.com (Günter Felbermayer) ''Wir tanzen nicht zu eurer Bolognese'' Kommissarin: "In Österreich ist etwas schief gelaufen" Der Prozess sei noch nicht am Ende, meint EU-Bildungskommissarin Vassiliou im Ö1-Mittagsjournal . "Wir wissen, dass die Bologna-Prinzipien nicht einheitlich umgesetzt wurden. Manche haben es besser gemacht, manche schlechter", sagt sie. Die konkrete Umsetzung der Bologna-Kritierien in Österreich will Vassiliou nicht beurteilen. Doch "die Proteste deuten darauf hin, dass in Österreich etwas schief gelaufen sein muss", sagt die Zypriotin Vassiliou. Der Bologna-Prozess wurde jedoch für die Studenten ins Leben gerufen. Deshalb müssten Proteste auch ernst genommen werden, warnt die Bildungskommissarin. "Wenn wir etwas falsch gemacht haben sollten wir den Studenten zuhören und versuchen es in Zukunft besser zu machen."
Eines der Hauptziele des Bologna-Prozesses ist die Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse (siehe auch Bachelor, Master bzw. Doktorat/PhD). (c) AP Erstabschluss nach mindestens drei Jahren im Bachelor/Master/PhD-System. Die Einführung des Bachelors in allen Staaten soll die Abschlüsse international kompatibel machen, zu mehr Mobilität führen und die Studienzeiten verkürzen. (c) Die Presse (Clemens Fabry) Von 30 europäischen Staaten am 19. Juni 1999 unterzeichnet. Darin bekannten sie sich zum Ziel, bis zum Jahr 2010 einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen. (c) Die Presse (Clemens Fabry) Die Reform der Studienpläne war eine der augenscheinlichsten Elemente des Bologna-Prozesses. Meist vierjährige Diplomstudien mussten in Österreich in dreijährige Bachelor-Studien umgewandelt werden, an die sich zweijährige Masterstudien schließen. Die Überladung der Curricula ist auf die schlechten Umsetzungen durch die Unis zurückzuführen. Diese kritisieren, dass sie bei der Erstellung der Curricula unter Zeitdruck standen und die Reform „kostenneutral“ und ohne ministerielle Hilfe durchführen mussten. (c) Die Presse (Clemens Fabry) Öffentliche Urkunde, mit dem der abgeschlossene Studiengang detailliert erläutert wird. (c) AP (Joerg Sarbach) Dritter Abschluss des neuen Studiensystems. Erfordert eigenständige Forschung, als Arbeitsaufwand werden drei bis vier Jahre angenommen. In Österreich sieht das Gesetz eine mindestens dreijährige Dauer vor. Als Titel werden Doktor oder PhD (Doctor of Philosophy) verliehen. (c) APA (GUENTER R. ARTINGER) Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht ist die EU nicht Initiator des Bologna-Prozesses. EU-Programme wie Erasmus unterstützen aber Bologna-Ziele wie die Förderung der Mobilität der Studenten. (c) AP (Virginia Mayo) Im Bologna-Prozess gilt das Konsens-Prinzip. Das heißt, dass kein Land überstimmt werden kann. (c) Reuters (FRANCOIS LENOIR) Gegen den Bologna-Gipfel wollen Studenten am 11. März mit einer am Westbahnhof startenden Demonstration protestieren. Am 12. März soll der in der Hofburg stattfindende Gipfel mit lauter Live-Musik übertönt werden. (c) Reuters Durch das European Credit Transfer System (ECTS) sollen an den Hochschulen erbrachte Leistungen vergleichbar und damit auch grenzüberschreitend anrechenbar werden. Grundlage ist die Annahme eines in Stunden gemessenen durchschnittlich zu leistenden Arbeitsaufwandes für das Studium. Ein Studienjahr entspricht dabei 60 Punkten bzw. 1500 bis 1800 Arbeitsstunden. (c) AP (Daniel Maurer) Zweiter Abschluss im neuen Studiensystem. Zugangsvoraussetzung ist die vorherige Absolvierung eines Bachelor-Studiums. (c) AP Albanien, Andorra, Armenien, Aserbaidschan, Belgien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Mazedonien, Estland, Finnland, Frankreich, Georgien, Griechenland, der Heilige Stuhl, Irland, Island, Italien, Kroatien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Moldau, Montenegro, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Serbien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Türkei, Ukraine, Ungarn, Großbritannien und Zypern. Die Mitgliedschaft steht allen Ländern offen, die die Europäische Kulturkonvention des Europarats unterzeichnet haben. (c) AP (Franka Bruns) Österreich ist seit dem Beginn des Bologna-Prozesses mit dabei. Bei der Umsetzung waren die nationalen Vorgaben bis vor kurzem besonders restriktiv: So durften etwa Bachelor-Studien nur dreijährig eingerichtet werden. (c) APA (HERBERT PFARRHOFER) "Doctor of Philosophy" - dritter Abschluss im neuen Studiensystem (alternativ zum "Doktor") (c) EPA (ZHOU CHAO) Dokumentation des Studienverlaufs. Ergänzt das Diploma Supplement um die detaillierte Auflistung von einzelnen absolvierten Modulen. Im Rahmen eines Auslandsaufenthaltes soll es die erlangten Leistungen dokumentieren. (c) Die Presse (Clemens Fabry) Probleme bei der Umsetzung gibt es vor allem bei der Umwandlung von vierjährigen Diplom- in kürzere Bachelor-Studien. In vielen Fächern wurden einfach alle Studieninhalte unverändert übernommen, was zu einer Überfrachtung der Ausbildung führte. Bachelor-Abschlüsse werden außerdem von vielen Arbeitgebern bzw. Standesvertretungen nicht als berufsqualifzierend angesehen. (c) AP (Thomas Kienzle) Der Protest vieler Studenten richtet sich neben der Kritik an praktischen Umsetzungs-Problemen vor allem gegen die Reduktion des Studiums auf wirtschaftliche und berufsbezogene Kriterien. Das dreistufige Studiensystem führe außerdem zu "erhöhter sozialer Selektion", Master- und PhD-Programme würden sich zu einem "Eliteprogramm" verdünnen, heißt es etwa auf der Protestseite "http://bolognaburns.org". (c) AP (Markus Schreiber) Schwerpunkt des Zeitraums bis 2020 ist die vollständige Umsetzung aller Bologna-Ziele, insbesondere im Bereich der Studienarchitektur, der Qualitätssicherung, der Anerkennung, der Beschäftigungsfähigkeit und der Relevanz der Abschlüsse für den Arbeitsmarkt, der Stärkung der sozialen Dimension sowie im Bereich des lebenslangen Lernens und der internationalen Kooperation. Bis 2020 sollen mindestens 20 Prozent der Graduierten im Europäischen Hochschulraum im Ausland studiert haben. (c) AP (Fabian Bimmer) "Wie studiert der Depp? Step by Step" In Wien protestierten am Donnerstag mehrere tausend Menschen gegen das "Bologna-System". Mit Transparenten ("Bologna abfeiern, nicht mit uns", "Wie studiert der Depp? Step by Step") protestierten sie gegen das neue System. Nach dem offiziellen Ende der Demonstration versuchten sie, den aus Budapest anreisenden Ministern den Weg zur Jubiläumskonferenz abzuschneiden: eine sichtbare Form von "Zugangsbeschränkungen".
(APA/Red.)
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