Etwa zwei Drittel der EU-Bürger sind gegen muslimische Zuwanderung. Warum nahm Juncker das nicht als Auftrag?
Österreich ist Ratspräsident, am Donnerstag stritt der Nationalrat über die EU. Als der Name des Präsidenten der Europäischen Kommission fiel, rief ein Abgeordneter aus: „Der B'soffene!“ Ich finde, der Zwischenrufer wurde Jean-Claude Juncker nicht gerecht.
Ich bin ein so glühender Europäer, dass es dampft und raucht, und ich mag Juncker. Es wurde kaum beachtet, dass Juncker schon zur Mitte seiner Amtszeit resigniert hat, er tritt kein weiteres Mal an. Zwischen den keimfreien Mensch-Maschine-Kontinuen, die in Brüssel die Agenda setzen, wird uns dieser Charakterkopf fehlen. Nur drei Kostproben seiner Bonmots: „Alle entdecken ja das Wort Weltanschauung wieder und schauen sich die Welt nicht an.“ „Ich bin nur ein kleiner Heiliger in einer großen Kirche.“ „Wenn es ernst wird, muss man lügen.“ Ganz nebenbei finde ich, dass man abstinenten Politikern misstrauen sollte.
Juncker war der geborene Kommissionspräsident, in die Ge-schichte geht er indes mit dem ersten Austritt eines Mitglieds ein und mit einer gespaltenen EU. Seine Tragödie besteht darin, dass er sich das verdient hat. Er hat vieles besser gemacht, so hat seine Kommission die Gesetzesinitiativen von früher 130 auf etwa 20 pro Jahr reduziert. Juncker hat nur in einem historischen Moment falsch entschieden. Als die Massenzuwanderung nahöstlicher Muslime die EU zerriss, verkündete er: „Wer Andersfarbige oder Andersgläubige nicht aufnehmen will, kommt aus einer Vorstellungswelt, die ich nicht für kompatibel halte mit dem Ur-Auftrag der EU.“ Das war an Osteuropa gerichtet. Mit ihrer Haltung, sagte er 2017, wären Polen oder Ungarn nicht in die EU aufgenommen worden.
Juncker hat damit die Gelegenheit verpasst, das Interesse von ganz Europa zu vertreten. Er folgte lieber der Linie von Angela Merkel, die fast drei Jahre lang europäisches und deutsches Recht brach, stur an dieser spaltenden Politik festhielt, ihr Problem auf andere abzuwälzen suchte und sich auch noch als Trägerin einer „europäischen Lösung“ verkaufte. Das Autokratische an Merkel fiel nun sogar dem Staatsphilosophen der BRD auf. Nachdem Merkel im Asylstreit von den EU-Partnern „Loyalität“ angemahnt hatte, schrieb Jürgen Habermas diese Woche: „Meistens ist es ja die Chefin, die von ihren Mitarbeitern Loyalität erwartet, während gemeinsames politisches Handeln eher Solidarität als Loyalität verlangt.“ Anstatt 2015–2016 Merkels uneuropäisches Vorgehen zu tadeln, kritisierte die Kommission Österreich für die Schließung der Balkanroute. Juncker trotzig: „Nein, das war kein Fehler.“
Einen Ur-Auftrag, Andersgläubige aufzunehmen, wird man in den EU-Verträgen vergeblich suchen. Juncker hat wieder einmal geflunkert. Aus dem Mund eines Luxemburgers klang die Behauptung besonders scheinheilig: Über die Jahrzehnte war es nämlich die unausgesprochene Staatsdoktrin des Großfürstentums, fast ausschließlich katholische Migranten anzuwerben. Italiener, Portugiesen, Kapverder; die typische Luxemburger Messe wird heute in Portugiesisch gelesen. Beinahe 50 Prozent der Luxemburger Bevölkerung sind Zuwanderer, und doch gibt es weniger Integrationsprobleme als in Ländern mit fünf Prozent Muslimen.
Jean-Claude Juncker hätte seine Europäer schützen können, spricht doch auch Macron von einem „Europa, das schützt“. Etwa zwei Drittel der EU-Bürger sind gegen muslimische Zuwanderung. Warum nahm er sich nicht das zum Auftrag, wozu erfand er Ur-Aufträge hinzu? Er hätte die EU gestärkt.
Martin Leidenfrost, Autor und Europareporter, lebt und arbeitet mit Familie im Burgenland. E-Mails an: debatte@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2018)