Der Bundespräsident warnt angesichts des Asylstreits in Deutschland vor einem "Dominoeffekt, der das Gegenteil von europäischer Solidarität ist". Europa sieht der "an einem Scheideweg" stehen.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen warnt eindringlich vor einem Rückfall in Nationalismen: "Europa steht an einem Scheideweg", sagte er am Sonntag und müsse sich alsbald entscheiden: "Wollen wir weitermachen wie bisher und zusehen, wie die EU und damit Österreich auf der Weltbühne an Bedeutung verlieren?" Oder, "wollen wir ein starkes Europa, das in der Welt gehört wird, weil es mit einer Stimme spricht?" Er selbst setze sich für Zweiteres ein, ein vereintes Europa. "Ich hoffe, dass der Brexit uns allen eine ausreichende Warnung ist."
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) habe "ein klares Bekenntnis zur Zusammenarbeit in Europa abgegeben" und werde "den im Regierungsprogramm festgeschriebenen pro-europäischen Kurs sicherlich ernst nehmen", zeigte sich das Staatsoberhaupt überzeugt. Auch Kurz kenne die weltpolitische Situation und wisse, dass Österreich seine Interessen allein global nicht durchsetzen könne. An der EU-Mitgliedschaft hingen in Österreich Hunderttausende Arbeitsplätze. "Eine Zerstörung der Union würde die einzelnen Nationalstaaten wie ein Schiff ohne Steuer auf hoher See Wind und Wellen aussetzen und letztlich neue Armut in Europa bedeuten", warnte Van der Bellen. Zudem verwies er auf eine Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, wonach 73 Prozent der Österreicher für den Verbleib in der EU seien.
Mit der Mitgliedschaft der FPÖ in der "Le Pen-Fraktion", also der EU-kritischen Fraktion Europa der Nationen und Freiheit (ENF) im EU-Parlament, habe er "keine Freude", betonte der frühere Wirtschaftsprofessor neuerlich. "Sie widerspricht dem im Regierungsprogramm verankerten pro-europäischen Kurs der Bundesregierung."
"Müssen legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen"
Beim Thema Migration tritt Van der Bellen dafür ein, "dass man der Bevölkerung reinen Wein einschenkt. Ohne eine gemeinsame EU-Migrations- und Asylpolitik und Bekämpfung der Fluchtursachen wird es nicht gehen", erklärte er. "Wenn wir irreguläre Migration verhindern wollen, müssen wir legale Einwanderungsmöglichkeiten schaffen." Mit einem europäischen Einwanderungsrecht und einem gemeinsamen Asylsystem könnten Verfolgte geschützt und zugleich die Zuwanderung kontrolliert werden. "Darauf müssen wir hinarbeiten."
Die Frage der Migration sei jedoch nicht das größte Problem Europas: "Momentan machen mir jedenfalls die Klimakrise und der drohende Zoll- und Handelskrieg mit den USA deutlich mehr Sorgen", sagte der Bundespräsident. Er verwies auch darauf, dass die Zahl der Schutzsuchenden deutlich zurückgegangen und die Lage "unter Kontrolle" sei. Es sei aber legitim und sinnvoll, sich auf mögliche künftige Entwicklungen vorzubereiten.
Die Entwicklung seit der Ankündigung der nationalen Maßnahmen der deutschen Bundesregierung zeige laut Van der Bellen, dass es "notwendiger denn je" eine gemeinsame, abgestimmte Vorgangsweise der EU-Staaten geben müsse. "Sonst droht ein Dominoeffekt, der das Gegenteil von europäischer Solidarität ist und letztlich allen schadet". Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sei jedenfalls "unzweifelhaft eine Europäerin", meinte er. "Und es hat mir gefallen, wie sie jüngst betont hat, dass die Seele Europas die Humanität ist."
(APA)