Wilhelm Höttl: Schule der Wendigkeit

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Er war SS-Sturmbannführer, wechselte nach dem Krieg die Seite und spionierte für die USA. Sein wendiges Wesen brachte Wilhelm Höttl Ehrungen ein – und er wurde sogar Schuldirektor.

Er baute im Wien der 30er-Jahre den Geheimdienst der illegalen SS auf, wurde Sturmbannführer, war mit Adolf Eichmann befreundet, spielte 1944 eine undurchsichtige Rolle bei der Deportation ungarischer Juden, versuchte gegen Kriegsende, mit den US-Amerikanern um einen Sonderfrieden für ein NS-geführtes Österreich zu verhandeln, sagte beim Nürnberger Prozess gegen Kaltenbrunner und Eichmann aus, arbeitete für US-Geheimdienste, mutierte zum biederen Schuldirektor in Aussee und erhielt 1995 das Große Ehrenzeichen des Landes Steiermark. Das wendige Wesen des Wilhelm Höttl schillert in allen Farben.

„Geh zum Höttl, der weiß das“, sagte der anerkannte Geschichtsprofessor, und ich folgte seinem Rat – nur per Telefon, denn die Zeit drängte. Gemeinsam mit zwei Kollegen hatte ich 1996 binnen weniger Stunden ein „Journal-Panorama“ für Ö1 über die bekannt gewordene Existenz von US-amerikanischen Waffenlagern aus dem Kalten Krieg auf österreichischem Boden zu fabrizieren. Tatsächlich genügte ein Anruf bei besagtem Höttl, und der alte Herr gab kundig Auskunft über jene Waffendepots, die Amerikaner und Briten in Österreich angelegt hatten, um in einem etwaigen Bürgerkrieg gegen die Kommunisten die westliche Seite ausstatten zu können.


Chronist des Dritten Reichs. Drei Jahre später saß ich endlich Wilhelm Höttl in seinem Haus in Altaussee persönlich gegenüber – mit Mikrofon und Tonband, um das Resümee seines schillernden Lebens aufzuzeichnen. Es sollte der erste und letzte Besuch sein, denn wenige Monate danach war Wilhelm Höttl, 84, tot. Zuletzt hatte er zu den TV-Lieblingszeitzeugen von Portisch, Knopp und Co gezählt, beständig verharrend in seiner Rolle als Chronist des Dritten Reiches und seiner selbst. Schließlich war er studierter Historiker.

Interessanter als seine Erinnerungen an Nazi-Potentaten, deren oberste er meist ohnehin nur aus der Ferne kannte, ist das wahre Gesicht des Wiener Bürgersohns, der schon als 16-Jähriger zu den Nazis stieß – oder sollte man besser von Gesichtern sprechen?

Genau genommen wurde der junge Mann bereits mit 19 Jahren zum Geheimagenten, als er nach dem Verbot der NSDAP in Österreich, dem gescheiterten NS-Putsch und der Ermordung Dollfuß' ausgerechnet am großdeutsch dominierten „Institut für Österreichische Geschichtsforschung“ der Uni Wien damit begann, den „Sicherheitsdienst“ der illegalen SS aufzubauen und bürgerliche Juden, Freimaurer, Monarchisten und Ständestaatstreue zu bespitzeln. Als studentischer Funktionär der „Fachschaft der Historiker“ hatte Höttl wie auch andere Jungnazis wie Taras Borodajkewicz (nach 1945 skandalumwitterter Professor an der Wiener Hochschule für Welthandel) und Ludwig Jedlicka (späterer Doyen der österreichischen Zeitgeschichtsforschung in den 60er-Jahren) mitten im Ständestaat breiten Zugang zu Daten und Informationen über NS-Gegner. Dabei oszillierte Höttl ständig zwischen Braun und Schwarz, was ihm als geübtem „Bündischen“ nicht schwerfiel, bewegten sich doch die bürgerlich dominierten bündischen Jugendgruppen der Zwischenkriegszeit in politischen Pastellzonen – von faschistoidem Heimwehrgrün über Christlichschwarz und Kornblumenblau-bräunlich bis Schwärmerischrot-sozialrevolutionär.


Er überlebte sie alle. Auch dort war Höttl schon als Jüngling zugange gewesen und hatte zu sammeln begonnen, was ihn bis zu seinem Tod über Wasser halten sollte: persönliche Freundschaften, die oft ein Leben lang hielten – und er überlebte sie alle, von Adolf Eichmann bis Julius Raab, von Ernst Kaltenbrunner bis Josef Krainer sen.

Nach dem Anschluss hielt es ihn nicht lange in Wien. Dort agierten andere wie sein Freund Eichmann, der die beschönigend so genannte „Auswanderungsstelle“ für Juden leitete, ehe er grausiger Buchhalter der Todeslager wurde. Höttl hingegen wurde im Amt VI des SS-Sicherheitsdienstes Spezialist für Auslandsfragen und baute ein Agentennetz quer über den Balkan und Norditalien auf. Höttls große Stunde schlug, als 1943 der Österreicher Ernst Kaltenbrunner Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) wurde. Gegen Kriegsende wurde Höttl vom RSHA-Chef in die Schweiz geschickt, um dem dort residierenden US-Spitzengeheimdienstler Allan W. Dulles einen Sonderfrieden anzubieten.

Kaltenbrunner gab sich der Illusion hin, Bundeskanzler eines mit den USA verbündeten NS-geführten Österreich werden zu können – eine Narretei, die Höttl schnell als solche erkannte. Zu Dulles stieß er zwar nicht vor, doch bot er den Amerikanern nach Kriegsende an, den SS-Agentenapparat in Osteuropa in ihre Dienste zu stellen. Zu seiner Überraschung lehnten sie ab und lieferten Teile des SD-Spionagenetzes an die gerade noch befreundete Sowjetunion aus. Nun bekam es der in US-Haft einsitzende Höttl mit der Angst zu tun, musste er doch damit rechnen, dass ihm seine mögliche Rolle als SD-Mann in Budapest 1944 bei der Deportation von mehr als 400.000 ungarischen Juden nach Birkenau einen Prozess samt Todesurteil als Kriegsverbrecher einbringen würde. Noch dazu, wo angeblich auf sein Geheiß ein langer „Goldzug“ mit enormen Werten aus jüdischem Vermögen gen Westen in Richtung Aussee gerollt sein soll.


Zeuge in Nürnberg. Wenig später finden wir Höttl tatsächlich im Nürnberger Kriegverbrechergefängnis – allerdings nicht als Angeklagten, sondern im Zeugentrakt. Willig sagte er aus, dass ihm Eichmann die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden genannt hätte. Es war Höttls einzige welthistorisch bedeutsame Aussage. Sie bescherte ihm wohl die Freiheit, aber auch lebenslange Angriffe von Holocaustleugnern und Alt- wie Neonazis, was unangenehm gewesen sein mochte, aber Höttl die Aura des von Nazis Angefeindeten verschaffte – ein paradoxer Hauch von Widerstand umwehte ihn. Höttl hatte die Seiten gewechselt und brachte unter Pseudonym Bücher über Agentenabenteuer im Dritten Reich heraus. Vor allem aber baute er für den US-Nachrichtendienst CIC eine Spionagezentrale in Gmunden auf, wo Contras für kommende Guerillakriege gegen die Kommunisten trainiert wurden.

Der Kalte Krieg hatte längst begonnen, und Höttl war für die US-Dienste wieder interessant geworden. Als sich die neu gegründete CIA zu Beginn der 50er-Jahre um Reinigung von Nazi-Konfidenten bemühte, war das Ende von Höttls Tätigkeit für US-Dienste gekommen. Fortan soll er als „Free Lancer“ für das bundesdeutsche „Amt Blank“, und den französischen Auslandsdienst tätig geworden sein.

Den dritten Bildungsweg beschritt er ab 1952 mit der Gründung mehrerer höherer Schulen in Aussee, wo sich der Wiener mit seiner Familie niedergelassen hatte. Der Bedarf für AHS, Handelsschule und -akademie sei im Salzkammergut einfach zu groß gewesen, sagte Höttl später, doch Kritiker wollen wissen, dass die Schulgründungen vor allem dazu gedient hätten, alte Nazi-Kumpel als Lehrer zu beschäftigen und Kindern reicher Eltern aus nah und fern zur Matura zu verhelfen. Sogar Höttl selbst räumte ein, dass bei ihm so manche die Reifeprüfung geschafft hätten, deren Chancen anderswo gering gewesen wären. Den Behörden blieb das nicht verborgen, und die Schulen verloren das Öffentlichkeitsrecht. 1965 ging Höttl mit 15 Mio. Schilling (1,1 Mio. Euro) in Konkurs, lebte aber bis zu seinem Tod 1999 recht fidel in Aussee und genoss eine Position als hauptberuflicher Zeitzeuge für Geschichten rund um Spionage und das Dritte Reich. Einer, der in den 80er-Jahren bei ihm anklopfte, war sein Ex-Schüler und Sekretär des SP-Kanzlers Sinowatz, Hans Pusch. Thema der Anfrage: die Kriegsvergangenheit eines gewissen Kurt Waldheim; über ihn wusste Höttl aber nichts Wichtiges zu erzählen.


Sphinx von Aussee. Dass ihm der Sohn seines alten Freundes Josef Krainer, der gleichnamige Landeshauptmann Krainer junior, 1995 das „Große Ehrenzeichen des Landes Steiermark“ verlieh, empörte nicht nur die Lagergemeinschaft Mauthausen. Bis heute fordern Kritiker, die Auszeichnung rückgängig zu machen. Mit oder ohne Orden bleibt Wilhelm Höttl auch nach seinem Tod die Sphinx von Aussee – ein rätselhafter Akteur der Zeitgeschichte, der immerhin beweist, dass sich weltanschauliche Wendigkeit in Österreich noch immer ausgezahlt hat.

Martin Haidinger
wurde 1969 in Wien geboren. Nach einem Studium der Geschichte an der Universität Wien arbeitet er seit 1990 als Journalist (u.a. für ORF und Deutschlandfunk) und Autor von Sachbüchern (Unter anderem: „Von der Guillotine zur Giftspritze. Die Geschichte der Todesstrafe“ oder „Unser Hitler“) und Romanen. Fabry

Rudi Palla
wurde 1941 in Wien geboren. Er arbeitet als Autor und Filmemacher in seiner Heimatstadt. Sein Buch „Verschwundene Arbeit - Von Barometermachern, Drahtziehern ... und vielen anderen untergegangenen Berufen“ erscheint dieser Tage im Brandstätter Verlag.

Silveri

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2010)

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