Rastafaris: Der Tag, als der Regen kam

Rastafaris verehren den früheren Kaiser von Äthiopien, Haile Selassie (1892 bis 1975), als Gott. Über Hintergründe und Missverständnisse in der Rastafaribewegung.

Als ich mit einem Bekannten durch die Fußgängerzone meiner zweiten Heimat Frankfurt am Main spazierte, wurde eine Gruppe von Rastas auf uns aufmerksam. Rastas oder Rastafaris nennen sich die Anhänger einer Bewegung, die ihren Ursprung auf Jamaika hat. Sie betrachten Äthiopien als das gelobte Land der Bibel und Haile Selassie, den letzten Kaiser Äthiopiens, als Inkarnation Gottes.

Durch Reggaemusik wurde diese Botschaft in die ganze Welt getragen, vor allem von Bob Marley, bei dessen Konzerten immer ein riesiges Porträt des Kaisers über der Bühne prangte.

Die Rastas in der Frankfurter Fußgängerzone laufen auf mich zu. Ihre filzigen Haarstränge wabern wie Krakenarme um ihre Köpfe. Dann knien sie nieder und bitten um meinen Segen. „Wieso tut ihr das?“, frage ich peinlich berührt. „Du bist der Neffe Gottes“, sagen sie. Auf meine Beteuerung, dass Kaiser Haile Selassie ein Mensch war wie sie und ich, ernte ich nur mitleidige Blicke. „Die Nase ist den Augen am nächsten, aber wir können sie nicht sehen“, antwortet einer von ihnen.

Im Grunde verneige ich mich vor dem Engagement der Rastas. Sie haben die Fahne Äthiopiens hochgehalten, als unser Land zu einem Synonym für Hunger, Krieg und Pestilenz verkam. Die Rastas ehren unsere Kultur und Geschichte, sie tragen den panafrikanischen Gedanken weiter, der die Basis ihrer Bewegung ist. Aber die Göttlichkeit Kaiser Haile Selassies ist eine Position, die uns immer trennen wird.

Glaube aus der Sklavenzeit. Woher kommt der seltsame Glaube? Ich denke, er wurzelt in den Gräueln des Sklavenhandels. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden Millionen Afrikaner in Ketten gelegt und in die Neue Welt verschifft, als Sklaven für Zuckerrohrfelder in der Karibik oder Baumwollplantagen in den USA. Die Kolonialherren raubten diesen Menschen nicht nur ihre Freiheit: Sie nahmen ihnen alles, ihr Selbstwertgefühl, ihre Sprachen, ihr Brauchtum und ihre Religionen.

Den Sklaven war nicht erlaubt, zu lesen. Dennoch studierten einige heimlich die Bibel. Schon im ersten Kapitel der Genesis (2,13) lasen sie, dass aus dem Garten Eden ein Fluss strömte, der sich in vier Arme teilte. Einer war der Fluss Gihon, der das Land von Äthiopien umschlang. Sie lasen weiter, dass Moses eine Äthiopierin heiratete (Num.12). Und in den Psalmen Davids (68,31) fanden sie, dass Prinzen aus Ägypten kommen würden und Äthiopien bald seine Hände ausstrecken werde nach Gott.

Afrika war kein Kontinent ohne Geschichte. Äthiopien wurde zur Hoffnung und geistigen Heimat der Menschen, die alles verloren hatten.

Das Äthiopien der Bibel ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit dem heutigen Staatsgebilde. „Ethiops“ heißt auf Griechisch nichts anderes als „das Land der gebrannten Gesichter“. Es war in der Antike eine Bezeichnung für ganz Afrika. Alle dunkelhäutigen Menschen können sich mit Äthiopien identifizieren. Viele Sklaven begannen, die biblische Geschichte von der Gefangenschaft der Israeliten in Ägypten als Allegorie auf ihre eigene Situation zu lesen. In ihnen keimte die Hoffnung auf einen schwarzen Moses und einen neuen Exodus: heraus aus dem Babylon des weißen Mannes, zurück in die Heimat Äthiopien.


Sieg über Italiener. 1896 ließ ein Ereignis die Herzen der Afrikaner in der ganzen Welt endgültig für Äthiopien entflammen: Die Europäer hatten zu der Zeit ganz Afrika unter sich aufgeteilt. Bis auf ein Land: Äthiopien. Italien machte sich daran, Abessinien, wie das Land damals hieß, in seine Gewalt zu bekommen. Doch dann geschah das Unglaubliche: In der Schlacht von Adua im Norden Äthiopiens besiegten Afrikaner zum ersten Mal eine europäische Kolonialarmee. Das Heer Kaiser Meneliks II. schlug die Italiener unter General Oreste Baratieri vernichtend. Äthiopien blieb frei und unabhängig.

Aus der reichen Tradition der Bewunderung und Identifizierung mit Äthiopien ist die Rastafaribewegung entstanden. Auslöser war eine Prophezeiung Marcus Garveys (1887 bis 1940), eines der einflussreichsten Aktivisten für die Rechte der Afrikaner Anfang des 20. Jahrhunderts. Er stammte aus Jamaika und gründete in New York die Unia, die „Gesellschaft zur Verbesserung der Lage der Neger“. 1916, vor seiner Abreise in die USA, sagte Garvey zu seinen Landsleuten: „Schaut auf Afrika. Ein schwarzer König wird gekrönt. Er wird unser Erlöser sein.“

1930 herrschte auf Jamaika eine ungewöhnliche Dürre. Am 2. November wurde in Äthiopien Ras Tafari unter dem Namen Haile Selassie I. zum Kaiser gekrönt. Als die Bilder der Krönungsfeier um die Welt gingen, begann es auf Jamaika zu regnen – und viele waren überzeugt, den prophezeiten Messias zu sehen.

Die äthiopische Kaiserdynastie ist die älteste der Welt. Sie nahm ihren Anfang vor 3000 Jahren, als die Königin von Saba zu König Salomon nach Jerusalem reiste. Salomon, so erzählen die Legenden, verführte die schöne schwarze Königin, und sie gebar einen Sohn: Menelik, den Stammvater der äthiopischen Dynastie. Später brachte Menelik die Bundeslade des Moses aus dem Tempel Salomons nach Äthiopien. Bis heute gilt die alte Kaiserstadt Axum als Aufenthaltsort der Bundeslade. Haile Selassie war der 225. Erbe der Dynastie.

Stets bekannten sich die äthiopischen Herrscher zum christlichen Glauben: Mit „Der Löwe von Juda wird siegen“ waren traditionell alle Korrespondenzen äthiopischer Kaiser überschrieben. Schon im Mittelalter führte das zu Missverständnissen an den Höfen Europas. Das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem wahren „Löwen von Juda“, interpretierte man als Titel äthiopischer Monarchen. Die Rastas gingen noch einen Schritt weiter: Sie identifizierten Kaiser Haile Selassie mit dem „Löwen von Juda“ und dem „König der Könige aus dem Hause Davids“, den Johannes in seiner Offenbarung prophezeite (OFF. 5.2.).

„Ich bin kein Gott.“ 1966 reiste Haile Selassie zu einem Staatsbesuch nach Jamaika. Der Flughafen in Kingston wurde von tausenden begeisterten Rastas gestürmt. „Ich bin nicht Gott. Ich bin kein Prophet. Ich bin ein Sklave Gottes“, erklärte Haile Selassie. Er ließ zwei Kirchen bauen, eine auf Jamaika, eine auf Trinidad, und er entsandte einen äthiopischen Bischof und Priester in die Karibik, um zu zeigen: Mein Gott ist Jesus Christus. Doch irgendwie haben selbst diejenigen Rastas, die sich in der äthiopisch-orthodoxen Kirche Jamaikas taufen ließen, die Frage nach der Gottheit Kaiser Haile Selassies grundsätzlich falsch verstanden.

Auch einer der Rastas, die sich in Frankfurt vor mir niederwarfen, trug ein äthiopisches Kreuz und bestätigte, dass er in der äthiopischen Kirche Jamaikas getauft wurde. „Auf welchen Namen bist du getauft?“, fragte ich. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und Haile Selassies, Amen“, antwortete er. „Das heißt doch Heiliger Geist“, widersprach ich. „Das ist dasselbe, nur ein anderer Name“, meinte er. Ich war sprachlos. Doch was bedeutet schon „Neffe Gottes“? Als Christen dürfen wir uns schließlich alle Kinder Gottes nennen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.