Den Beruf des Rezensenten hält Andrea Breth für vermessen. Sie hat größten Respekt vor dem Kunstwerk und ist bei Triumphen misstrauisch. Das Scheitern ist für sie hingegen produktiv:
Samuel Becketts Empfehlung „Versuch es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser.“ aus „Worstward Ho!“ wird gerne von Regisseuren zitiert. Was sagen Sie zu Triumph und Niederlage im Theater? Sie haben den Ruf, sehr genau zu arbeiten, da kann man doch nie zufrieden sein?
Andrea Breth: Ich habe Respekt vor dem Dichter. Man weiß in der Regel, dass man seine Messlatte unterschreitet, dass ein Geheimnis bleibt. In der Weltliteratur wird man bei einem Werk immer wieder etwas Neues entdecken. Die Gesellschaft verändert sich zudem und dadurch auch die Lesart. Ich habe mich mit Schillers „Maria Stuart“ vor tausend Jahren in Freiburg beschäftigt. Als ich dieses Drama dann viel später in Wien inszenierte, habe ich mich gewundert, was ich zuvor in Freiburg aus diesem Drama herausgelesen habe. Es kam mir vollkommen abstrus vor. Das ist aber ganz normal. Anders ist es bei den „wellmade plays“, bei denen man Dünnbrettbohrerei bemänteln muss.
Wie stehen Sie zu Kritik?
Kritiker ist ein vermessener Beruf. Man hört und sieht sich eine Sache, die monatelang vorbereitet wurde, einmal an und bildet sich sofort ein Urteil. Da ist man sowieso auf der Verliererseite. Das ist völlig irrational. Die erste Kunst des Kritikers besteht doch in der Beschreibung. Untergriffe finde ich indiskutabel.
Berühren Sie Vernichtungen?
Mich kränkt es, wenn über Schauspieler auf schreckliche Art und Weise hergezogen wird. Man kann nicht derart brutal über erstklassige Schauspieler schreiben. Solche Kritiker könnte ich ohrfeigen. Was über mich geschrieben wird, nehme ich nicht wirklich ernst. Früher habe ich es überhaupt nicht gelesen, jetzt lese ich es lange nach der Premiere, aus Interesse, um herauszukriegen, was verstanden worden ist. Es mutet oft merkwürdig an, dass die Vielschichtigkeit gar nicht bemerkt wurde, zum Beispiel als Ästhetik überhaupt nicht verstanden wurde. Da werde ich dann trübsinnig, auch wegen der zunehmenden Geistlosigkeit. Daran, dass heute nichts verstanden wird, ist auch die Verblödung durch Medien schuld.
Wann ist für Sie ein Kritiker gescheitert?
Wenn er nicht hinschauen kann. Wenn er Dinge beschreibt, die gar nicht stattgefunden haben. Da kann ich Ihnen viele Beispiele nennen, über Ignoranz gegen das Werk und seinen Kontext. Ich mag auch keine Kriterienlosigkeit. Es ist hip, Aufführungen zu favorisieren, die so dilettantisch sind, dass es mir die Schuhe auszieht. Diese Inszenierungen werden aber genau deswegen gekrönt. Das ist nahezu geistesumnachtet.
Nennen Sie ein Beispiel...
Nehmen Sie die aktuelle Liste zum Theatertreffen. Die Jury soll die zehn besten deutschsprachigen Aufführungen wählen. Sie wählen aber lieber ein Motto wie Wirtschaftskrise oder Globalisierung. Wenn sich irgendjemand damit beschäftigt hat, ist bereits das Klassenziel erreicht. Über diese Misere schreibt niemand! Eine Inszenierung wie meine vom „Zerbrochenen Krug“, die im vergangenen Herbst durchwegs hervorragende Kritiken bekam, in der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sogar als Aufführung des Jahres bezeichnet wurde, die eine neue Lesart bietet und unglaubliche Schauspieler hat, wird als altmodisch angesehen und deshalb nicht eingeladen. Das ist für unsere Produktion katastrophal. Wir hätten, wenn wir eingeladen worden wären, eine Fernsehaufzeichnung gehabt. Jetzt wurde das Stück eben nur zehnmal bei der Ruhrtriennale gespielt. Nun ist sie für immer weg!
Die Zeit spricht eben für die Epigonen von Zertrümmerern wie Frank Castorf.
Er hat wenigstens etwas gewollt, Castorf hatte einen persönlichen Ausdruck, aber seine Nachahmer haben nicht diese Intelligenz. Diese Mini-Castorfs haben nicht verstanden, um was es eigentlich geht. Ein Theaterregisseur ist ein Diener des Werkes und sonst gar nichts. Der Regisseur soll nicht in das Werk reinschrauben, was ihm gerade durchs Gehirn gerutscht ist. Ich finde es vermessen und ein Verbrechen an großen Dichtern. Ich wäre froh, wenn ich auch nur eine Zeile so schreiben könnte wie sie.
Lassen wir die Kritiker und Regisseure. Wie ist es mit dem Scheitern im Team, wenn man draufkommt, dass eine Inszenierung nicht funktionieren wird?
Natürlich passiert das. Aber da ich in der Regel nicht zur Besetzung von Rollen gezwungen werde, muss ich das Projekt dann eben durchziehen. Wenn es eine extreme Überforderung gibt, muss ich das auf mich nehmen. Dass eine ganze Gruppe nicht zusammenkommt, ist mir Gott sei Dank noch nie widerfahren.
Dann aber kommt der Tag der Hysterie. Die Premiere. Mögen Sie diese Situation?
In der Regel ist die Premiere nicht besonders gut, da gibt es so viel Druck, den man nicht verhindern kann. Ich will den Schauspielern die Angst nehmen, doch das ist mir bisher noch nie geglückt. Ich nehme an Premieren nicht als Zuseher teil. Wir könnten auch anregen, dass ein Kritiker sich einmal eine spätere Aufführung ansieht, meist ist sie besser.
Sie haben einmal gesagt, Sie wären eine schlechte Schauspielerin. Warum glauben Sie denn das?
Mich interessiert eben das Gesamte. Ich bin auch überzeugt, dass ich es gar nicht könnte. Ich würde am Wesentlichen des Berufs scheitern, unter anderem der Reproduktion. Ich habe auch keine solche Ausbildung.
Dürfen sich bei Ihnen die Schauspieler einmischen?
In meinen Proben gibt es produktive Auseinandersetzungen. Wenn jemand Vorschläge macht, bin ich froh. Ich habe um mich sehr selbstständige Schauspieler, die viel ausprobieren. Ich muss ihnen natürlich das genaueste Feedback geben. Zwei Monate von – sagen wir – dreien haben die Schauspieler für sich, immer selbstverständlich im ständigen Gespräch mit mir. Die letzten vier Wochen gehören aber mir. Dann komme ich mit meinem Handwerkskasten, und das Ding wird zusammengenietet. Auch das braucht der Schauspieler; ein Gerüst, das für alle gilt. Der Geist muss ein gemeinsamer sein.
Was bedeutet der Mangel für eine Inszenierung?
Der ist mir vor allem am Anfang begegnet, zum Beispiel in Freiburg, aber das war ein schöner Lernprozess. Da gibt es kaum vorstellbare Krisen, die Angst vor dem Absturz.
Schauen Sie sich die Aufzeichnungen Ihrer Regiearbeiten von früher an?
Nein.
Ich nehme an, Sie neigen nicht zur Überheblichkeit. Aber wie haben Sie reagiert, als Sie Regisseurin des Jahres wurden?
Es wäre verlogen, zu sagen, so ein Preis wäre mir egal, aber umso vorsichtiger muss man nach so einer Auszeichnung sein. Kritiklosigkeit gegen sich selbst ist gefährlich. Man lernt mehr, wenn man einen Misserfolg hat.
Wann ist Ihnen das passiert?
Bei meiner ersten „Emilia Galotti“. Ich war zu jung und habe mich überhoben. Wir wussten alle, es ist nicht gut. Ich nahm die Buhrufe auf mich, ging getrennt von den Schauspielern raus. Man hat mit Programmheften geworfen. Dann ging es mir nicht gut, ich hatte eine extreme Krise, weil ich zuvor ein Schnellaufsteiger war.
Beim Erfolg kriegt man in der Regel falsche Freunde, bei Misserfolgen bleiben die wahren Freunde über. Ist das auch bei Ihnen so?
Absolut. Und das ist auch gut so, da muss man sich nicht um so viele kümmern.
Was macht den Reiz des Burgtheaters aus?
Für mich ist es eine künstlerische Heimat, nicht nur, weil ich viele Schauspieler hier schätze. Hier gibt es eine wunderbare Technik, eine tolle partnerschaftliche Arbeit. Ansonsten aber bevorzuge ich Festivals.
Reden wir von den Triumphen in Wien. Wie sind Sie damit umgegangen?
Was für Triumphe? Ich fand „Don Carlos“ eine ziemlich gute Arbeit. Aber sonst? Sie werden mir das schwer glauben, aber ich erinnere mich an vieles nicht, nur an Momente, zum Beispiel bei der „Maria Stuart“. Sehr trickreich war auch „Der jüngste Tag“. Ich versuche jedes Mal, den Ausdruck zu finden, den das Werk verlangt, eine neue Form, und das könnte bereits das Scheitern sein. Aber ich werde doch häufig durch eine bestimmte Brille gesehen, und man sagt, die Breth sei zuständig für die Klassiker. Das stimmt doch nicht! Ich habe viele Stücke von neuen Autoren gemacht, nicht immer nur Schiller. Aber Regisseure wie Luc Bondy und ich werden immer mehr an die Peripherie gerückt, wir gelten als altmodisch. Mode und Zeitgeist sind jedoch etwas Vergängliches, und beim Theater geht es nicht nur um die Erzeugung von Wirkungen. Man sollte auch eine Geschichte erzählen. Das ist doch nicht verwerflich.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2010)