Rechter Terror: "Ein neuer NSU ist jederzeit denkbar"

Die Angehörigen der Terroropfer glauben auch nicht, dass die NSU-Zelle nur aus drei Personen bestand.
Die Angehörigen der Terroropfer glauben auch nicht, dass die NSU-Zelle nur aus drei Personen bestand.(c) imago/Tim Wagner
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Fünf Jahre lang dauerte einer der größten Prozesse der deutschen Nachkriegszeit. Für Angehörige der Opfer beginnt mit dem Urteil die Aufklärung erst.

Berlin. Normalerweise liefert Enver Şimşek nur die Ware aus. Er bringt die Blumen zu dem kleinen, mobilen Stand in Nürnberg und fährt dann sofort weiter. An diesem Tag, dem 9. September 2000, macht er aber eine Ausnahme: Ein Kollege ist noch auf Urlaub, also übernimmt Şimşek den Verkauf selbst. Bis am frühen Nachmittag Schüsse fallen: Achtmal wird Şimşek getroffen, zwei Tage später verstirbt er im Krankenhaus. Er ist das erste Opfer der langen Mordserie des rechtsextremen NSU-Terrors.

18 Jahre später sitzt sein Sohn, Kerim Şimşek, auf einem Podium in Berlin und sagt: „Gestern wurden wir richtig enttäuscht.“ Er meint damit vergangenen Mittwoch, als das Urteil in dem langwierigen Prozess fiel. Lang musste er auf diesen Moment warten: Elf Jahre dauerte es, bis durch Bekennervideos des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) erst klar wurde, wer für den Tod seines Vaters verantwortlich war. Fünf Jahre dauerte das Verfahren, das gegen die offenbar einzige Überlebende der Terrorzelle, Beate Zschäpe, geführt wurde. Sie erhielt lebenslange Haft für Mittäterschaft an zehn Morden und für Mitgliedschaft bei einer terroristischen Vereinigung.

Zweieinhalb Jahre für Helfer

Das ist die Höchststrafe. Şimşek trifft daher der Schuldspruch eines anderen Angeklagten: André E. – bekennender Neonazi, auf dem Bauch den Schriftzug „Stirb, Jude, stirb“ in englischer Sprache tätowiert – erhält überraschend nur zweieinhalb Jahre Haftstrafe (so wie auch in Zschäpes Fall nicht rechtskräftig). Als der Richter das Urteil vorliest, jubelt eine Gruppe Rechtsextremer im Gerichtssaal. So wie André E. tragen sie alle schwarze Hemden.

Der wahre Grund für Şimşeks Enttäuschung ist allerdings ein anderer. Die Aufklärung des NSU-Terrors ist mit dem Urteil seiner Meinung nach noch lang nicht beendet. Der deutsche Staat müsste sich mit dem strukturellen Rassismus befassen. Auch in den eigenen Behörden. Denn als sein Vater ermordet wurde, ging die Polizei (wie auch bei anderen NSU-Opfern) zunächst von einem Delikt in der Drogenszene aus. Die Wohnung wurde durchsucht, es wurde aber nichts gefunden. Auch die Telefone wurden abgehört, der Witwe ein Foto einer angeblichen Geliebten des Mannes gezeigt, um sie doch noch zu einer Aussage zu provozieren. „Die Behörden haben gesagt, sie müssen jeder Spur nachgehen. Es gab aber keine in die Richtung“, sagt Kerim Şimşek. Rechtsextremismus kam als Motiv lang nicht infrage.

Ist die Terrorzelle größer?

Die Angehörigen der Terroropfer glauben auch nicht, dass die NSU-Zelle nur aus drei Personen bestand. Zschäpe und ihre beiden Freunde Uwe B. und Uwe M., die sich nach einem missglückten Raubüberfall selbst töteten, mussten Helfer gehabt haben, um jahrelang untertauchen und töten zu können. Sebastian Scharmer, Anwalt der Tochter eines weiteren Opfers, fordert ebenfalls weitere Aufklärung über die rechte Szene in Deutschland und das Netzwerk der Neonazis. „Ein neuer NSU ist jederzeit möglich“, sagt er. „Wenn er nicht schon längst existiert.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2018)

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