Europäische Kommission: Warum der Präsident wankt

Jean-Claude Juncker (rechts) beim Nato-Gipfel mit dem niederländischen Ministerpräsidenten, Mark Rutte. Juncker musste am Donnerstag gestützt werden, am Vorabend war er auf einen Rollstuhl angewiesen.
Jean-Claude Juncker (rechts) beim Nato-Gipfel mit dem niederländischen Ministerpräsidenten, Mark Rutte. Juncker musste am Donnerstag gestützt werden, am Vorabend war er auf einen Rollstuhl angewiesen.(c) Johann Groder / EXPA / picturede (Johann Groder)
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TV-Bilder des beim Nato-Gipfel torkelnden Jean-Claude Juncker heizen Gerüchte über seinen Gesundheitszustand an. Manch einer wirft ihm Alkoholismus vor.

Brüssel. Am Abend des 9. November 1989 wachte Jean-Claude Juncker, Luxemburgs erst kürzlich bestellter neuer Finanzminister, in seinem Krankenhauszimmer auf und musste eine seltsame Nachricht verarbeiten: Die Berliner Mauer sei gefallen, sagte seine Frau zu ihm. „Und ich habe da gesagt: ,Ah ja‘, und bin wieder eingeschlafen“, erzählte Juncker, mittlerweile Präsident der Europäischen Kommission, 2016 bei einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.

Junckers Geistesabwesenheit im November 1989 hatte einen todernsten Grund: Im Monat zuvor hatte er einen schweren Autounfall erlitten und war zwei Wochen im Koma gelegen. „Ich habe die Zeit übrigens genossen, weil man da weniger mitkriegt und weniger Überraschungen erlebt“, kommentierte er dies mit schwarzem Humor. Ein halbes Jahr sollte Juncker im Rollstuhl sitzen und mühsam wieder das Gehen lernen.

Dauerhaft gehbehindert

Seither ist sein Ischiasnerv beschädigt, und er hat ein irreparables Gleichgewichtsproblem mit seinem linken Bein, erklärte Juncker ebenfalls vor zwei Jahren im Gespräch mit der französischen Zeitung „Libération“: „Das erfordert es, dass ich mich am Geländer festhalte, wenn ich Stiegen steige.“ Falls aber kein Geländer da ist, wenn der Ischiasnerv plötzlich höllische Schmerzen verursacht, muss Juncker sich auf jemanden stützen und kann kaum einen Schritt machen. So geschah das am Donnerstag in Brüssel anlässlich des Nato-Gipfeltreffens. Die Bilder des torkelnden, sich an mehreren Regierungschefs anhaltenden Kommissionspräsidenten heizten einmal mehr Spekulationen über seinen Gesundheitszustand an. Mehr noch: Schnell verbreitete sich in den sozialen Netzwerken die Unterstellung, Juncker sei betrunken gewesen. Der Umstand, dass diese Aufnahmen vor dem Mittagessen der Staats- und Regierungschefs entstanden, hielt den Chef der FPÖ-Abgeordneten im Europaparlament, Harald Vilimsky, nicht ab. Er forderte Juncker wegen einer „Reihe von offensichtlichen Alkoholproblemen“ per Presseaussendung zum Rücktritt auf.

Der heute 63-jährige Juncker ist kein Abstinenzler. Während des Interviews mit der „Libération“ trank er vier Gläser Champagner. Spekulationen darüber, dass er alkoholkrank sei, wies er verärgert zurück: „Glauben Sie, dass ich noch im Amt wäre, wenn ich Cognac zum Frühstück nähme? Das macht mich wirklich traurig, und es hat dazu geführt, dass meine Frau mich fragt, ob ich sie anlüge, weil ich zu Hause nicht trinke.“

Unzeitgemäße Frohnatur

Zweifellos hat das zermürbende Amt des Kommissionsvorsitzenden Juncker physisch erschöpft. Darum wird er sich nach Ablauf seines Mandates im Herbst 2019 aus der Politik zurückziehen. In gewisser Hinsicht ist diese rheinische Frohnatur, die sich rühmt, ein altmodisches Handy zu haben und seine Staatsgäste überschwänglich küsste, in seiner geistreichen Offenheit unzeitgemäß. Als er im Juni vor einer Rede im irischen Parlament nur mühsam und schwankend die Treppen zum Rednerpult hinabgestiegen war, kommentierte er das so: „Es wäre mir lieber, wenn ich betrunken wäre.“

ZUR PERSON

Jean-Claude Juncker wuchs als Sohn eines Stahlarbeiters im Süden von Luxemburg auf. Seine Schulzeit verbrachte er in einem belgischen Internat. Danach studierte er Rechtswissenschaften in Straßburg. 1980 wurde er Anwalt, bevor er zwei Jahre später in die Politik wechselte. Als Mitglied der Christlich-Sozialen Volkspartei wurde er 1982 Staatssekretär für Arbeit und Soziales. 1984 erlangte der talentierte Redner erstmals ein Mandat in der luxemburgischen Abgeordnetenkammer. Ab 1989 übernahm er das Ressort für Arbeit und Finanzen. In dieser Funktion erwarb er sich als Vermittler von Kompromissen auch bei den europäischen Partnern – insbesondere Helmut Kohl – Sympathien. Von 1995 bis 2013 war er Premierminister seines Landes. Nachdem er bereits mehrfach als Kandidat für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten gehandelt worden war, übernahm er 2014 diese Funktion. Juncker spricht fließend Luxemburgisch, Französisch, Deutsch und Englisch.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2018)

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