Erdoğans gelenkte Erinnerung

In der Nacht des Putschversuchs 2016 gingen Tausende Menschen auf die Straße.
In der Nacht des Putschversuchs 2016 gingen Tausende Menschen auf die Straße.APA/AFP/OZAN KOSE
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Der blutige Putschversuch in der Türkei jährt sich zum zweiten Mal. Die Regierungspartei inszeniert die Nacht als Wendepunkt der modernen Landesgeschichte – und sich selbst als historische Verwahrer.

Vergangenen Montag war wieder so ein Tag. Im türkischen Parlament in Ankara wurde Recep Tayyip Erdoğan in aller Feierlichkeit zum alten, neuen Präsidenten des neuen Präsidialsystems vereidigt. Wieder ein Anlass für die Weltpresse, sich den Mann näher anzusehen, der sich seit 16 Jahren scheinbar mühelos an der Macht hält. Viel ist schon über den Politiker geschrieben worden. Erdoğan, der Islam und Demokratie vereinigen kann, Erdoğan, der Versöhner mit den Kurden, Erdoğan, der Polterer, Erdoğan, der Autokrat, Erdoğan, der misstrauische Machtmensch. Und wenn sich am heutigen Sonntag der gescheiterte Putsch zum zweiten Mal jährt, zeigt sich eine andere Facette des türkischen Präsidenten sehr stark: Erdoğan, der scharfsinnige Historiograf.

Seit zwei Jahren arbeitet die Regierungspartei unter der Ägide Erdoğans akribisch daran, die blutige Putschnacht als Schnittpunkt der modernen türkischen Geschichte darzustellen. In anderen Worten: Staatsgründer Atatürk hat die Erste Republik gegründet, Erdoğan formiert gerade die Zweite Republik. Bereits kurz nach der Putschnacht bezeichnete der Präsident die Ereignisse als Geschenk Gottes. Der sogleich einsetzende Märtyrerkult ging einher mit einer staatlich gelenkten Erinnerungspflege, die mit der Umbenennung von Straßen- und Gebäudenamen begann. Der 15. Juli ist mittlerweile der offizielle Feiertag „Tag der Demokratie und der nationalen Einheit“ – und es ist kein Zufall, dass sich relevante Ereignisse rund um diesen Tag verdichten, beginnend mit der Vereidigung des neuen, alten Präsidenten.

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