Das Café Tournon als Pilgerstätte

Joseph Roth trank sich in Paris zu Tode.
Joseph Roth trank sich in Paris zu Tode.(c) Bilderbox
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Im Pariser Café Tournon trank sich Joseph Roth zu Tode. Heute ist es eine diskrete Pilgerstätte.

Am 23. Mai 1939 vernahm Joseph Roth bei der Zeitungslektüre in seinem Pariser Stammlokal, dem Café Tournon, eine erschütternde Nachricht: Sein alter Freund Ernst Toller, ebenso wie er vor den Nazis geflohen, hatte sich in New York das Leben genommen. Zutiefst aufgewühlt stürzte Roth und verlor das Bewusstsein. Schwer verletzt kam er in ein Armenspital, in dem er vier Tage später, nach schweren Qualen und ans Bett gefesselt, verstarb.

Vor einem Monat, anlässlich eines beruflichen Termins in Paris, war die Gelegenheit da, diesen letzten Lebensort meines größten literarischen Helden aufzusuchen. Pochenden Herzens nahm ich im Schanigarten Platz, in der Hand den Diogenes-Band „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“ mit allerlei Feuilletons und Reportagen Roths. 1938, drei Monate nach dem „Anschluss“, beschrieb Roth genau hier in „Rast angesichts der Zerstörung“, wie das Hotel Foyot gegenüber abgerissen wurde. Dort hatte er seit 1927 gelebt. „Jetzt sitze ich gegenüber dem leeren Platz und höre die Stunden rinnen“, notierte er. Tat er das genau an diesem Tisch, an dem ich das exzellente Enten-Confit verspeise? Und warf ihn hier die Nachricht von Tollers Freitod um? Niemand weiß es.

Doch tröstlich: Die Kellnerin kennt die historische Bedeutung ihres Bistros. Es kämen immer wieder Leute wegen Roth hierher, sagt sie. Wo einst das Foyot gestanden ist, in dem Joseph II. 1777 inkognito zu speisen gepflegt hat, wenn er seine Schwester Marie Antoinette besucht hat, ist heute ein Kiosk. „An meinem Tisch wartet das sanfte, große Elend“, schrieb Roth. „Wart, ich lache nur ein bisschen!“

oliver.grimm@diepresse.com


Nächste Woche:
Timo Völker

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2018)

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