Fluch und Segen der forcierten Digitalisierung

Entscheidungen, die heute noch von Menschen getroffen werden, werden künftig von digitalen Systemen vorgenommen.

Sie kaufen ihre Milch also wirklich noch selbst? Erledigt das nicht ihr intelligent vernetzter Kühlschrank für Sie, der längst festgestellt hat, dass der Vorrat zur Neige geht oder die Milch schon „überständig“ ist und er daher pflichtschuldigst Nachschub geordert hat? Hm.

Und Sie kurbeln wahrscheinlich auch noch selbst am Volant Ihres Wagens und sind nicht stolze Nutzerin so eines autonom fahrenden Wunderwerks. Verstehe. Dann haben Sie wahrscheinlich auch noch keine Erfahrung, wie sich Sex mit einem Roboter so anfühlt, stimmt's? Also noch nicht angekommen in der digitalen Zukunft.

Andererseits schickt Ihnen der Supermarkt Ihres Vertrauens doch Gutscheine, Rabattpickerln oder sonst irgendein Rubbel-Dings zu Babynahrung und Windeln zu. Da werden wohl ihre Einkäufe verraten haben, dass sich Nachwuchs eingestellt hat und flugs verarbeitet ein schlaues Programm diese Information und sorgt dafür, dass Sie entsprechende Angebote erhalten. Auch Ihr Social-Media-Profil spielt Ihnen Anzeigen und Informationen zu, basierend auf einer Analyse Ihres Nutzerverhaltens.

Warnung vor Bremsern

Ihr Apotheker wird Sie schon bald darauf hinweisen können, wenn ein Medikament, dass Sie eben erhalten mit anderen Arzneien, die Sie schon anwenden, nicht verträgt. Also doch schon angekommen – zumindest in der digitalen Gegenwart.

Ob die Allgegenwärtigkeit der Verarbeitung digitaler Informationen durch Algorithmen (also eigentlich Handlungsanweisungen, wie mit einer bestimmten Information umzugehen ist) nun Fluch oder Segen mit sich bringt und wie dies unseren Alltag und insbesondere die Arbeitswelt umkrempeln wird, analysieren gegenwärtig zwei Vorhaben mit ganz unterschiedlicher Herangehensweise.

Der wirtschaftsaffine Think Tank „Agenda Austria“ publizierte jüngst sein Dossier „Digitalpotenzial“ und meint darin, vor Bremsern warnend: „Technologischer Wandel bringt auch enorme Möglichkeiten und Chancen, die von der Angst vor Veränderung verdeckt werden.“ Das Dossier umreißt Perspektiven für die Arbeitswelt, welche die Digitalisierung mit sich bringen wird.

Eine ganze Fülle von zukünftigen Berufsbildern wird hier skizziert. Von Softwaretechnikern, die sich in Kfz-Werkstätten um die autonomen Fahrzeuge kümmern über Privatsphäremanager, die sich um Wartung und Sicherung personenbezogener Daten sorgen bis hin zu „Algorithmikern“ die selbstlernende Handlungsanweisungen der Programme beobachten und im Bedarfsfall korrigierend eingreifen.

Angesichts der zunehmenden Bedeutung künstlicher Intelligenz, etwa in der medizinischen Diagnostik, meint „Agenda Austria“, dass Ärzte „in Zukunft wahrscheinlich über weniger Fachwissen verfügen müssen und sich mehr um den direkten menschlichen Kontakt kümmern können“.

Hier wird fast beiläufig eine interessante Tür mit Blick auf die zukünftige Arbeitswelt geöffnet, leider ohne den Ansatz weiter zu verfolgen: Ein Effekt der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt wird nämlich sein, auch und gerade jene Kompetenzen zu fördern und auszugestalten, die eben nicht von dem Fortschritt auf diesem Gebiet erfasst sein werden.

Emotionale Intelligenz und soziale Kompetenz sollten dabei im Vordergrund stehen. Zwar wird der Computerwissenschaftler Donald Knuth dazu treffend zitiert: „Künstliche Intelligenz hat uns in nahezu allem geschlagen, doch versagt bei vielen Aufgaben, die wir erledigen, ohne darüber nachzudenken“.

Facetten der Digitalisierung

Dass dieser Umstand aber auf die zweite Herausforderung der digitalen Frage weist, bleibt unausgesprochen: Neben den Berufsbildern, die aktiv von „Big Data“, „Machine Learning“ etc. profitieren gilt es, das (Aus-)Bildungssystem gezielt in Richtung jener Fähigkeiten zu entwickeln, die eigentliche „Kernkompetenzen“ für uns Menschen bleiben werden. Auf der Ausgestaltung des Zusammenspiels zwischen künstlicher Intelligenz und menschlicher Empathie sollte das Hauptaugenmerk liegen.

Einen anderen Zugang wählt das Institut für Technikfolgenabschätzung (ITA) gemeinsam mit dem Austrian Institute of Technology (AIT), die gemeinsam für das österreichische Parlament ein Monitoring von Zukunftsthemen unter dem Titel „Foresight und Technikfolgenabschätzung“ durchführen. In halbjährlichem Abstand werden in diesem Rahmen auch Facetten der Digitalisierung sukzessive vertiefend hinsichtlich möglicher Konsequenzen für die Gesellschaft analysiert. Zur steigenden Bedeutung der Anwendung von Algorithmen halten ITA und AIT fest: „In vielen Fällen liefern Algorithmen die Grundlage für Entscheidungen, die von existenzieller Bedeutung sind. Wer einen Kredit erhält, gehört ebenso dazu wie Algorithmen, die vorschlagen, wer zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden soll.“

Wo beginnt Verantwortung?

Es muss uns also klar sein, dass zahlreiche Entscheidungen, die heute noch von Menschen getroffen werden, in Hinkunft von digitalen Systemen getroffen oder zumindest vorbereitet werden. Wo beginnt in so einem Prozess der Verantwortungsbereich der entscheidenden Person? Ist gewährleistet, dass der vorbereitende Algorithmus frei von diskriminierenden Elementen ist?

Diese Fragen bedürfen ebenso einer gestaltenden Auseinandersetzung wie die Ausgestaltung der Rolle, Kompetenz und Verantwortung menschlicher Akteure. Der aktuelle Beitrag der ITA/AIT Publikation zu „Social(Ro)Bots“, also zu Maschinen, die nach sozialen Regeln mit Menschen interagieren, etwa zeigt, dass digitale Entwicklungen weit in vermeintlich menschliche Domänen hineinreichen können. „Der demografische Wandel und die daraus folgenden Bedarfe im Gesundheitswesen und in der Pflege sowie die Digitalisierung der Produktion und maschinen-induzierte Veränderungen in der Arbeitswelt sind starke Treiber für die Integration von sozialen Robotern in die Gesellschaft.“

Fokus auf den Menschen

Es ist also offenkundig, dass es mehr als einer flankierenden Begleitung bedarf, um bei fortschreitender Digitalisierung klar konturierte Berufsbilder zu entwickeln, die möglichst nicht in Konkurrenz mit der Technologie stehen, sondern auf ihr aufbauen. Egal ob im Dienstleistungssektor, im medizinischen Bereich oder bei Kontakt mit Behörden: der zwischenmenschliche Austausch wird zum entscheidenden (preisbestimmenden) Qualitätsmerkmal werden – zusätzlich zu Effizienz und Effektivität.

Beide Seiten der Digitalisierungs-Medaille bieten Menschen Zukunftschancen: Die eine Seite, die Berufsbilder zeigt, die aktiv zur Ausgestaltung der Digitalisierung beitragen; und die andere, in der Diskussion sträflich vernachlässigte Seite, die sich auf jene Kompetenzen fokussiert, bei denen der Mensch auch langfristig die erste Geige spielen wird.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Thomas Jakl
(*1965) ist Biologe und Erdwissenschaftler. Er arbeitete bis 1991 an der Uni Wien, wechselte dann ins Umweltministerium.

Inzwischen ist er in leitenden Funktionen im Bereich des Umweltschutzes in verschiedenen nationalen und internationalen Institutionen tätig. Unter anderem ist er Mitglied des Vorstands des Forums Wissenschaft und Umwelt; er war Vorsitzender des Verwaltungsrats der EU-Chemikalienagentur. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2018)

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