Brexit: Großbritannien bereitet sich auf Isolation vor

EU-Chefverhandler Michael Barnier schließt wegen der Differenzen in London ein Worst-Case-Szenario nicht aus.
EU-Chefverhandler Michael Barnier schließt wegen der Differenzen in London ein Worst-Case-Szenario nicht aus.(c) REUTERS (CLODAGH KILCOYNE)
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Rat-, mut- und tatenlos sind London und Brüssel auf dem Weg in ein Worst-Case-Szenario. Die britische Wirtschaft schmiedet Notfallpläne, die Regierung prüft sogar Armee-Einsätze.

London. Die weißen Klippen von Dover gelten in der nationalen Mythologie der Briten als Symbol für das Inselreich selbst. Solang die Kreidefelsen aus dem Meer ragen, wird es Großbritannien geben. Doch über genau diese Klippen droht das Land bald zu stürzen: Die Zeichen häufen sich, dass es bis zum Ende der EU-Mitgliedschaft in acht Monaten keine Vereinbarung zwischen der EU und Großbritannien geben wird. Die Folgen könnten dramatischer nicht sein.

Nach dem bisherigen Zeitplan scheidet Großbritannien gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags am 29. März 2019 Mitternacht MEZ aus der Europäischen Union aus. Danach sollte eigentlich eine Übergangsfrist bis Ende Dezember 2020 in Kraft treten, in der einerseits Großbritannien in der Zollunion und im Binnenmarkt bleibt und andererseits die künftigen Wirtschaftsbeziehungen vereinbart werden. Diese Periode wird es aber nur geben, wenn sich London und Brüssel vor dem Ende der Artikel-50-Frist nicht auf eine politische Erklärung einigen. Diese muss bis Oktober stehen, um national abgesegnet werden zu können.

Dahin hat sich die britische Regierung nach immer eindringlicheren Warnungen der Wirtschaft Anfang Juli zwar bewegt und in einem Weißbuch einen möglichst sanften Brexit als neue Position angenommen. Der Kurswechsel führte zum Rücktritt der Hardliner Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson. Die Autorität von Premierministerin Theresa May war stark genug, um eine Rebellion im Kabinett zu vermeiden, nicht aber in der Partei: Umgehend musste sie radikalen EU-Gegnern Zugeständnisse machen. Damit bleibt die britische Position widersprüchlich und unausgegoren wie zuvor.

Epische Staus drohen

Die Kritik am sogenannten Chequers-Deal, den May durchgesetzt hat, hält an. Von „undurchführbar“ (Ex-Außenminister Johnson) bis „die schlechteste aller Varianten“ (Ex-EU-Kommissar Peter Mandelson) reichten die Stellungnahmen. Selbst der neue Brexit-Minister, Dominic Raab, räumt ein, dass noch „umfassende Überzeugungsarbeit“ erforderlich sei. Der frühere britische Spitzenbeamte Simon Fraser meint: „Das Weißbuch hat klargemacht, dass es keinen Brexit gibt, der gut ist für Großbritannien.“

Die einzige Alternative zu dieser Regierungsposition aber ist ein EU-Austritt ohne Vereinbarung und Übergangsfrist. Wenn das eintritt, wird Großbritannien ab 30. März 2019 ein „Drittstaat“. Die Folgen werden dramatisch sein, und beide Seiten beginnen nun mit ernsthaften Vorbereitungen für dieses Worst-Case-Szenario.

Die EU hat bereits 68 „technische Mitteilungen“ erarbeitet. Die Briten wollen nun dasselbe tun. Dazu gehören so einschneidende Schritte wie die Umwandlung der Autobahn nach Dover in eine riesige Abstellfläche für Lkw: Bis zu 10.000 Lastwagen werden heute in der Hafenstadt abgefertigt. Verlassen die Briten den Binnenmarkt ohne Vereinbarung, muss jeder einzelne geprüft werden. Die Staus drohen episch zu werden, selbst mit geplanten zusätzlichen 5000 Zöllnern, die man nun rekrutieren will.

Gehortet und eingelagert

Vorkehrungen trifft auch die Wirtschaft. Im ganzen Land werden die Lagerkapazitäten knapp. Lebensmittel, Medikamente und Ersatzteile werden in großem Stil gehortet. Peter Ward vom britischen Lagerverband: „Die Hälfte unserer Lebensmittel ist importiert, davon sind 80 Prozent aus der EU, und davon kommen wiederum 90 Prozent über Dover.“ Besonders bemühen sich Unternehmen dem Vernehmen nach um haltbare Güter wie etwa Gewürze. Gavin Darby vom Lebensmittelherstellerverband meint: „Die schlauen Betriebe wissen jetzt schon, was sie brauchen werden.“

Die Regierung soll für den Fall von Versorgungsengpässen den Einsatz der Armee prüfen. Minister Raab dementierte entsprechende Berichte nicht, bezeichnete sie aber als „wenig hilfreich“. Der konservative Abgeordnete und führende Anhänger eines weichen Brexit, Dominic Grieve, warnte, im Fall eines harten Brexit drohe ein „Ausnahmezustand“. Der ehemalige Premierminister John Major sagte auf die Frage, ob es auch positive Seiten eines Verlassens der EU ohne Abkommen gebe: „So wie es möglich ist, dass die Erde eine Scheibe ist.“

Das Worst-Case-Szenario wird nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds Großbritannien einen Konjunktureinbruch von vier Prozent bringen. Aber der harte Brexit wird auch für die EU teuer: Irland droht ein Minus in derselben Höhe, auch Nachbarstaaten wie die Niederlande oder Frankreich werden Einbußen erleiden. Das Dilemma wurde deutlich als der irische Regierungschef, Leo Varadkar, drohte, dass bei einem harten Brexit „keine Flugzeuge mehr fliegen“ würden, worauf Londoner Regierungsvertreter spöttisch anmerkten: „Die meisten irischen Flüge führen über britischen Luftraum.“

Gerade die Tragweite eines Brexit ohne Vereinbarung veranlasst manche Beobachter, noch an ein Umdenken zu glauben: „Trotz aller Drohgebärden und Unsicherheiten bleibt ein harter Brexit die am wenigsten wünschenswerte Option für beide Seiten und daher auch die unwahrscheinlichste“, meint Simon Hix, Professor an der London School of Economics. Charles Grant, Direktor des Thinktanks Centre for European Reform, sagt: „Derzeit kann kein Mensch wissen, was geschehen wird.“

„Harter Austritt ist das Beste“

Zu jenen, die Vorbereitungen für den Ernstfall treffen, gehört auch der Brexit-Hardliner Jacob Rees-Moog. Der Tory-Politiker, der mit seinen fundamentalistischen Positionen die Regierung unter Theresa May vor sich hertreibt, erklärte am Wochenende: „Ein harter Austritt ist das wahrscheinliche Szenario und auch das beste.“ Zugleich legte das von ihm geleitete Investmenthaus in Irland einen neuen Fonds auf, mit dem Restriktionen nach dem Ausscheiden aus der Europäischen Union umgangen werden sollen.

Zeitplan

Bis Oktober sollen Brüssel und London eine Einigung über eine politische Erklärung zum künftigen Verhältnis finden. Wird das nicht erreicht, könnte die Frist eventuell bis zu einem entscheidenden EU-Gipfel im November ausgeweitet werden.

Am 29. März läuft die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU aus. Eine Verlängerung kann lediglich einstimmig von allen Mitgliedstaaten und Großbritannien beschlossen werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2018)

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