Die Zerstrittenheit der Mitgliedstaaten schwächt die Stellung der Union in der Welt, wie nicht zuletzt der Handelsstreit mit Washington zeigt.
Der anfänglichen Irritation folgte betonte Gelassenheit. Dass die Botschaften aus Übersee die sonst übliche diplomatische Höflichkeit vermissen lassen, seit Donald Trump im Weißen Haus eingezogen ist, kann in den Brüsseler Couloirs so schnell niemanden mehr erschüttern. Selbst als der US-Präsident die Europäische Union vor wenigen Tagen als „foe“, also „Feind“ oder „Gegner“ im seit Monaten schwelenden Handelsstreit bezeichnet hatte, winkte Kanzlerin Angela Merkel lässig ab: Die Beziehungen zu Washington seien so wichtig, dass es sich lohne, über Lösungen zu streiten, referierte die Deutsche in ihrer gewohnt unaufgeregten Art bei der traditionellen Sommerpressekonferenz vor Urlaubsantritt.
Doch das Problem der Union geht viel tiefer, als sich deren Vertreter das mitunter eingestehen wollen – und es hat bei Weitem nicht nur mit der Person Donald Trump zu tun. Die Beziehungen der EU-Mitglieder untereinander sind in vielen wichtigen Fragen von Streit geprägt, was die Position Brüssels auf internationaler Ebene naturgemäß schwächt. Auch der US-Präsident kennt diese Schwäche und versucht sie nun für eigene Interessen auszunutzen.
Mahnende Rufe zur Geschlossenheit werden von Regierungsvertretern aus allen Ecken des Kontinents beiseitegeschoben, weil die innenpolitische Gemengelage es eben erfordert: Das gilt insbesondere für die emotional aufgeladene Flüchtlingsfrage, die tiefe Risse auf der politischen Landkarte Europas gezogen hat. Die Forderungen nach einer „gesamteuropäischen Lösung“ sind Ankündigungen einiger weniger gewichen, gemeinsame Sache bei der Flüchtlingsabwehr zu machen; andere stehen fassungslos daneben. Doch selbst jene Mitgliedstaaten, die Einigkeit demonstrieren, unterscheiden sich in ihrer Zielsetzung voneinander – man denke nur an die Debatte über die Rücknahme von Migranten zwischen Berlin, Wien und Rom. Zu der inneren Zerstrittenheit kommt noch eine Vertrauenskrise hinzu: Viele Bürger stellen sich berechtigterweise die Frage, wozu es eine EU braucht, die gerade dort, wo gemeinsame Lösungen vonnöten wären, allzu oft scheitert.
Die Ankündigung vom baldigen Zerfall der Union ist trotz allem nicht nur kontraproduktiv, sondern übertrieben – selbst wenn der nahende Brexit für manchen Pessimisten nur den Beginn einer Reihe weiterer EU-Austritte markiert. Für Washington selbst bedeutet der Wegfall Großbritanniens aus der Staatengemeinschaft vor allem, dass es einen wichtigen Fürsprecher verliert, der in Brüssel verlässlich für die US-amerikanischen Interessen lobbyierte.
Den Beginn der transatlantischen Krise aber markierten wohl die Verhandlungen zum geplanten EU-US-Freihandelsabkommen TTIP, die im Grunde schon gescheitert waren, bevor Trump sie zu Beginn seiner Amtszeit auf unbestimmte Zeit einfrieren ließ. Gegenseitig warf man sich überzogene Forderungen und Geheimnistuerei vor, bis das Vertrauen auf beiden Seiten schließlich gegen null tendierte. Die Position der Kommission – sie verhandelt internationale Abkommen für die EU – war ohnehin geschwächt, weil der Widerstand in Mitgliedstaaten wie Deutschland und Österreich von Tag zu Tag stärker wurde. Wieder war es die Union, der es an Geschlossenheit fehlte.
Das berühmte Bonmot „Wen rufe ich denn an, wenn ich Europa anrufen will?“ – es wird dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger zugeschrieben – hat heute mehr denn je Gültigkeit: Wer mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel telefoniert, erfährt nicht, was Berlin, Paris oder Budapest wollen. Man müsste viele Telefonate führen, um sich ein schlüssiges Bild dieser Union zu machen.
Ja, der Ton ist rauer geworden – und das nicht nur zwischen Brüssel und Washington. Die EU muss aufpassen, dass sie durch ihre innere Zerrissenheit global nicht zunehmend an Gewicht verliert: Denn wir brauchen ein Europa, das in einer Welt der polternden Trumps mit Geschlossenheit und Vernunft agiert – und nicht 28 Mitgliedstaaten mit 28 verschiedenen Meinungen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2018)