Schloss. Fest. Schießen.

Der Satz, der haften blieb: „Was hat der Herr Gendarm da unten nach den Juden zu stierln? Seien wir froh, dass die weg sind!“ Die Toten des Rechnitzer Kreuzstadls und der Fall Josef Sirowatka: eine Kindheitserinnerung und ihr Widerhall im Heute.

Am Rand eines mühsamen Sommers, als ein neuer Tag den Geruch einer Zeit ankündet, die kommen muss, fing das Kind an zu gehen, den Weg aus dem Dorf, zwei Schritte vor und zurück und dann nur mehr fort, aus dem Haus, aus der Gasse hinaus – durch den kotigen Feldweg, der im Wald mündet und bei jedem Hinsehen entfernter erschien. Links vom Weg dehnte sich breit ein Tal aus, Kornfelder wogten; wie das Meer, dachte es, das das Meer nie gesehen hatte, und hinter diesem Blaudunkel der Horizont, von dem sich die Sonne eben abzuwenden begann. Durch das Meer nicht, morgen früh, vielleicht lässt sich im Morgenlicht die Bernsteinstraße am Horizont sehen. Also zurück durch Morast und Kot.

Die russischen Laster, die jahrein, jahraus die Gasse durchfuhren, um Esterházys Hochwald abzuholzen, hatten tiefe Rinnen gegraben. Die abgerindeten Baumstämme, die sich beim Abtransport über die Laster wölbten, waren mit Ketten zusammengehalten. Gelegentlich rissen sie. Nach heftigem Regen konnten die Laster stecken bleiben, und wenn nichts mehr ging, halfen die Bauern mit Pfosten und Steinen. Der ganze Wald wird noch in der USIA verschwinden, in der Verwaltung sowjetischen Eigentums in Österreich, schimpften sie den Russen hinterher. Das Kind verstand das Wort nicht.

An einem in der Gassenzeile zurückversetzten und gleichermaßen auffallenden Haus blieb es stehen: Hineindenken in eine Herkunft, die ein Kind zum Bleiben einlud. Nachdenken über dieses so anders aussehende Sirowatkahaus, an dem jeder vorbeisah, die Mutter auch. Weiß getüncht, Sockel blau, spitzes Dach, Fenster klein, wie andere Häuser im Dorf und doch anders, allem voran der Vorgarten: ein kleiner Park mit exakt angelegten Ornamenten aus Buchs, die streng zurechtgestutzt waren, und zwischen dem Buchs Wege aus weißem Kiesel: Klein-Schönbrunn, dachte das Kind, das Schönbrunn nie gesehen hatte. Im Garten hinter dem Haus in Reih und Glied Obstbäume, eine Plantage: etwas völlig Neues, standen doch die Obstbäume sonst kreuz und quer in den Gärten herum.

Und da war die Frau Sirowatka mit ihrem lächelnden Gesicht, eine, die mit dem Kind sprach, so sie es in der Gasse traf. Gesprochen wurde hier kaum, das Kind sprach auch nicht, geschrien wurde ständig, getratscht viel. Der Mutter gefiel es nicht, wenn Frau Sirowatka sich mit dem Kind unterhielt, deren Tochter Emmi, die Freundin, zu besuchen, gefiel der Mutter nicht: Ist krank, hat die Schwindsucht!

Herr Sirowatka war im Nachbarort im Sägewerk von Schloss Lackenbach beschäftigt. Sowie er nach Feierabend zurück ins Dorf und die Steinfeldgasse herauf ging, sammelte er mit Sack und Schaufel die Kuhfladen vom Boden auf, die er, mangels eigener Kühe, zur Düngung seiner Gärten brauchte. Dies zur Häme der Bauern: „Steinfeldgasser Dreckauffasser“, schimpften sie ihm hinterher. Herrn Sirowatka kümmerte das nicht. Nie konnte man ihn mit einem Bauern reden sehen.

Josef Sirowatka, der Sohn, tat es ihm gleich, wiewohl: Wenn er auf der Gasse den Bruder des Kindes traf, konnte er reden. Sie waren etwa gleich alt, hatten den Krieg überlebt, der Bruder des Kindes als Deserteur: „A feige Sau warst!“, hörte das Kind einen Nachbarn zum viel älteren Deserteur-Bruder sagen. Auch er redete nicht, erst recht nicht mit seiner kleinen Schwester. Nach einem Streit in der Gasse war die Frau Sirowatka, die danach nur noch ernst lächelte, der Mutter aus dem Weg gegangen, daher staunte das Kind, als es eines Tages zu den Sirowatkas geschickt wurde, um der kranken Emmi ein Körbchen Pfirsiche zu bringen. Das Kind stand am niedrigen Eisenzaun. Ein Zähne fletschender Hund. Angst, wieder gehen! „Nur herein, der tut nichts, Tor ist offen!“, hörte es Frau Sirowatka. Als es den zögernden Fuß in die Stube setzte, flirrte ein Gegenstand an ihm vorbei, es erschrak, die Pfirsiche kollerten zu Boden. Josef, der den Gegenstand nach dem Hund geworfen hatte, saß da, seine Frau, seine Eltern am Bett der Emmi, die so verändert lächelte und dem Kind die Hand gab.

Wenige Tage später fand Emmis Begräbnis statt.

Josef Sirowatka war in Lackenbach als Gendarm tätig gewesen. Bald nach seiner Heirat folgte seine Versetzung ins südliche Rechnitz, wo er rund eineinhalb Jahre verblieb. Plötzlich, von einem Tag zum nächsten, hatte er seine Gendarmerieposten zu räumen und sein Elternhaus zu verlassen. In Uniform, stolz und gerade schritt er mit Frau und zwei kleinen Töchtern die heimatliche Steinfeldgasse hinunter, um in einem im Dorf wartenden Auto zu verschwinden. Zurück blieben betagte, sehr verängstigte, kranke Eltern, die sich noch mehr verschlossen.

Für ein paar Wochen fegte anschließend der Tratsch die Gassen: Vom „Versetzt!“ und „Geschieht dem Kommerl ganz recht!“ bis zum „Im Gegenteil!“, der Nazi sei doch unten in Rechnitz beteiligt gewesen. – „Am Kreuzstadl? Niemals, da war der Sirowatka noch nicht aus dem Krieg zurück.“ Und der Satz, an dem die Geschichte beim Kind haften blieb: „Was hat der Herr Gendarm da unten nach den Juden zu stierln? Seien wir froh, dass die weg sind!“

Jetzt, 60 Jahre später und ein paar Medienberichte mehr, denke ich, dass es Zeit ist für diese Geschichte. „Wiener Studenten als Nazi-Jäger!“, stand kürzlich zu lesen. Wieder eine Kreuzstadlgeschichte, wenn auch keine unmittelbare. Wieder erinnert an das von Kindheit an Verdrängte und Mitgetragene. Wieder das großartige und erschütternde Filmdokument „Totschweigen“ gesehen.

Schloss. Fest. Schießen.

Auf Befehl eines Nazi-Bonzen – der quasi zum Höhepunkt eines NSDAP-Gelages im Schloss Rechnitz umgemünzt wird, mit dabei auch die Herrschaft, quasi als Schirmherrschaft, Graf und Gräfin Batthyány, sowie Funktionäre der Kreisleitung Oberwart und zahlreiche andere NS-Getreue – werden im März 1945 noch schnell ein paar ungarischen Juden, die sich als zu krank und/oder zu erschöpft für den Einsatz am Südostwallbau erwiesen haben, „weggeputzt“. Rund 190 Menschen sollen es gewesen sein. Oder mehr. Der sich abzeichnende Zusammenbruch des verheißenen „Tausendjährigen Reiches“ hat sich noch erfolgreich wegsaufen lassen, bis unter dem Ortsgruppenleiter Franz Podezin und einem Trupp Festgäste am Kreuzstadl das „Abschießen“ seinen Lauf nehmen kann. Hilferufe und Todesschreie sind in dieser Nacht in Rechnitz nicht zu überhören, der Knall jedes einzelnen Schusses – wie viele? wie viele verfehlte? – durchdringt die dicksten Mauern.

Nach getaner Arbeit kehrt man aufgeweckt zum Schlossgelage zurück. Die 18 verschonten Juden, die die Toten hinterher zu verscharren haben, werden anderntags erschossen. Das Grab dieser „Totengräber“ wird 1970 entdeckt. Der Ort des Massengrabs jedoch ist bis heute unbekannt, trotz mehrerer Suchaktionen und Grabungen. Der Verbleib dieses Grabes: Bis Anfang der 1950er weiß man, dann setzt nach für einige „harmlose“ Rädelsführer recht harmlos verlaufenden Prozessen das Totschweigen ein, das bis heute grassiert. Machtstrukturen der Politik, Prozesse, selbst Aufrufe mit Ersuchen um Hinweise werden daran abprallen.

Einige Gerichtsprozesse sind in der Causa Kreuzstadl/Rechnitz und Umfeld angestrengt worden. Mehrere Prozesseinstellungen, etliche Freisprüche und Amnestien. Zwei aussagewillige Zeugen im Verlauf des Kreuzstadlprozesses 1948 ermordet; die Warnung: Wir meinen es ernst! Der Prozess gegen Ortsgruppenleiter Franz Podezin verläuft im Sand: Zunächst unter Obhut der Batthyánys, kann er untertauchen.

„Die Staatsanwaltschaft Dortmund erhebt Anklage!“, wurde kürzlich gemeldet. Ein neuer Prozess! Zwei bereits angestrengte, betreffend einen 90-jährigen SS-Mann aus Duisburg, der 1945 bei Deutsch-Schützen (Umfeld Rechnitz) an Exekutionen jüdischer Zwangsarbeiter beteiligt gewesen sein soll, sind im Sand verlaufen: der erste 1946, der zweite 1956. Der Prozess war 1949 auch dem Gauleiter Tobias Portschy gemacht worden. Portschy hatte im Burgenland so schnell wie gründlich die Fäden in Sachen „Säuberung“ von Juden, „Zigeunern und so Gesindel“ gezogen. Zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt, kam er nach zwei Jahren frei. Amnestiert. In hohen Gremien tätig. Bankaufsichtsrat. Angesehener Rechnitzer Bürger, 1996 verstorben: „Ich bekenne mich zu meiner Vergangenheit! Ich bereue nichts!“

Josef Sirowtka starb 1997.

Als sich abzeichnet, dass der Ermittler Sirowatka in der Causa „Massaker in Rechnitz“ zur Gefahr werden kann, wird er mundtot gemacht, abgesetzt und entfernt. Wo er verblieben ist, wo er lebt – ob überhaupt, weiß keiner zu sagen, vielleicht seine Eltern, die jedoch werden schweigen; „totschweigen“. Josef Sirowatka war nicht der einzige Ermittler, der damit zu leben hatte.

Nochmals zum Film „Totschweigen“ von Margareta Heinrich und Eduard Erne (1994): Einer der wenigen, die auf Ernes Fragen eingehen, ein Rechnitzer Gärtner, spricht Sirowatkas Ermittlungen an – wie auch dessen jähe Entfernung. Eduard Erne erzählte mir, dass während seiner Recherchen die „Jalousien“ in Rechnitz ständig heruntergefallen seien. Als er bei Josef Sirowatka in Eisenstadt läutet, wird er eingelassen. „Herr Sirowatka“, so Erne, „führt mich ins Kellerstüberl, sperrt ab, hört mich an. Dann sagt er: ,Ich sage nichts. Wenn sie diesen Raum verlassen, haben sie nichts erfahren!‘“

„Bitte keine Namen, nur E und K!“, ersuchen mich die Sirowatka-Töchter, die wenig Zeit haben. Wir sitzen im Café Steiner in Eisenstadt. „Nichts, wir wussten nichts“, sagt E. „Nichts vom Vater!“, setzt sie nach. „Nein, auch nach dem Film ist Rechnitz nie Thema mit Vater gewesen“, klagt K. „Unsere Kindheit? Hart, wahnsinnig hart, der Vater ließ ja nichts zu, kaum Freundschaften, er hinterfragte alles und jeden.“ „Eigentlich hat eruns erzogen“, ergänzt E, „die Mutter ist ja ab der Versetzung nach Kittsee nicht mehr belastbar gewesen.“ „Dabei – unser Vater malte, er war musisch sehr begabt“, sagt K stolz. „Wir haben von ihm auch viel gelernt.“ „Und dass seine Härte . . . sein Verhalten geprägt von Angst war“, sagt E leise in sich hinein, „dass er all die Jahre geschwiegen hat, um uns zu schützen, das weiß ich jetzt!“

„Ich habe ihn nie verstanden“, stößt K hervor, ständig bemüht, die Tränen zu verbergen. „Ich verstehe ihn erst jetzt!“ „Die Übersiedlung von Kittsee nach Eisenstadt folgte nach acht Jahren. Der Vater“, fährt K fort, „war ein Aufdecker, aber er wurde ständig gehindert, verhindert! Zweimal ins Ministerium zitiert, hatte er die Fälle abzugeben – ein politisches Machtnetz, verstehen Sie, das bekamen wir mit. Gott, dieses Rechnitz! Rechnitz bis zu seinem Tod, das weiß ich jetzt! Diese Klammer Rechnitz“, wiederholt K bitter, „die hat sich auch auf uns übertragen. Was noch? Andere demütigen, zerstören, umbringen – und sich selber mit sturem Schweigen schadlos halten?“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2010)

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