„Apollon“: Diese Musen sind angst- und ekelfrei

Wilder Ritt für Performer und Publikum: Florentina Holzinger beim Nacktrodeo im Volkstheater.
Wilder Ritt für Performer und Publikum: Florentina Holzinger beim Nacktrodeo im Volkstheater.(C) Radovan Dranga
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ImPulsTanz. Florentina Holzinger demontiert den Gott der Künste: Grandiose Show zwischen Blutrausch und Comedy.

Ich verstehe keine Limits“, sagte Florentina Holzinger in einem Interview, das im Programmheft zu ihrem Stück „Apollon“ abgedruckt ist. Man sollte dazusagen: Die aufstrebende Tänzerin und Choreografin mag auch keine Kompromisse und ist offenbar, was ihre Performances angeht, so angst- und ekelfrei, wie es auch ihr Publikum sein sollte. Denn wer an Hämatophobie leidet, ein Problem mit Körpersäften hat oder sich von einer öffentlichen Darmentleerung provoziert fühlt, der sollte diesem Abend lieber fernbleiben. Oder zumindest keinen Platz in den vordersten Reihen wählen . . .

Nachdem sich Holzinger quasi zum Aufwärmen vor dem noch verschlossenen Vorhang einen Bolzen in die Nase gehämmert hat, legt ihre Truppe aus sieben furchtlosen Frauen mit einer Freakshow los, zu der sich die Wiener Künstlerin von einem Auftritt der All American Sideshow hat inspirieren lassen. Ach ja: George Balanchines „Apollon musagète“ von 1928 spielt auch eine Rolle – aber nur, um zu demonstrieren, was Holzinger auf gar keinen Fall will: zarte Ballettmusen, die gefällig trippelnd um den Gott der Künste kreisen. Bei Holzinger sind die Musen nackt, stemmen Gewichte, lassen sich an Kletterseilen durch die Luft schleudern, treten als Dominaparodie oder in grotesk übersteigerter Macho-Cowboy-Manier auf und besteigen ihren Apollon (der in Form eines Rodeoautomaten auf der Bühne steht), um lüsterne Spielchen auf und mit ihm zu treiben und ihn dann brutal abzumontieren. Eine furiose Show zwischen Blutrausch, Porno, Trash und Comedy.

Evelyn Frantti hält, was sie den „Damen, Herren und allen dazwischen“ gleich zu Beginn im lockeren Plauderton einer Conférencière verspricht: Es gibt „echtes Blut, echten Schweiß, echte Tränen“. Aber nicht alle fanden dabei die vorhergesagte „echte Unterhaltung“, als sie sich (echte) lange Nadeln durch die Haut zog, ein schweres Gewicht an einem Nasenring schleuderte oder sich einen Schlauch durch Nase, Rachen und Mund zog, um jemandem dadurch einen Schluck Gin Tonic anzubieten.

Wie ein lebender Kerzenständer

Da sind die ersten Zuschauer schon gegangen. „Apollon“ ist faszinierend und abstoßend zugleich. Erträglich wird es, wenn man die Augen von den Videos abwendet, die alles ganz nah heranzoomen. Holzinger weiß um die Überforderung – und konterkariert sie immer wieder mit schwarzem Humor. So sorgt Frantti für erleichterte Lacher, als sie mit den brennenden Nadeln in den Armen feierlich an den Bühnenrand tritt und „Happy Birthday“ singt, als wäre sie ein lebender Kerzenständer – und dem Herrn, der die Flammen ausblasen darf, sagt sie: „War das nicht der beste Blowjob?“

Erstmals zeigte Holzinger ihr Stück auf der großen Bühne – im Volkstheater. Bei der ImPulsTanz-Präsentation hatte sie noch Bedenken gehabt, ob das in Opernguckeratmosphäre funktionieren kann. „Apollon“ ist eine Gratwanderung zwischen Extremen: einer bewusst schockierenden Kunst (in Anlehnung an Body-Art-Kunst der 1970er) und purer, manchmal slapstickartiger Unterhaltung. Die Antwort war begeisterter Applaus. „Apollon“ ist ein großartiges Theatererlebnis für alle, die es schaffen, nicht wegzulaufen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2018)

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