Stumme Bilder des Holocaust sichtbar machen

Unzähliges Filmmaterial alliierter Soldaten über den Holocaust ist noch völlig unbekannt. Es wird nun ausfindig gemacht, digitalisiert und veröffentlicht: Das wird viel Neues zutage fördern.

Es gibt sie, die Bilder vom Holocaust. Jeder, der einmal eine Dokumentation über das Dritte Reich gesehen hat, kennt diese. Bilder von ausgemergelten KZ-Häftlingen und Leichenbergen. Viele der zumeist schwarz-weißen Aufnahmen gehören inzwischen zum kollektiven Gedächtnis, weitertradiert durch Filme wie „Schindlers Liste“. Doch gibt es viele Stunden Material, die noch völlig unbekannt sind: aufgenommen von alliierten Soldaten, verstreut in Archiven rund um die Welt.

Das von der EU finanzierte Horizon-2020-Projekt „Visual History of the Holocaust: Rethinking Curation in the Digital Age“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, es zu finden, zu digitalisieren, online zu veröffentlichen und mit Zusatzmaterial zu den Bildern wie etwa Interviews, Formularen und Berichten von den Kameramännern, Tagebüchern, Briefen oder Fotografien anzureichern. 13 internationale Institutionen, darunter die KZ-Gedenkstätte Mauthausen, das französische Centre national de la Recherche Scientifique oder die Hebrew University of Jerusalem, nehmen daran teil. Das Österreichische Filmmuseum und das Ludwig-Boltzmann-Institut (LBI) für Geschichte und Gesellschaft koordinieren die mit fünf Millionen Euro dotierte Forschung.

Veränderungen ausgeschlossen

„Wir versuchen, grundlegende Fragen der Digitalisierung von Bildmaterialien zu beantworten – und das mit dem schwierigen Thema des Holocaust“, sagt der Philosoph und Historiker Ingo Zechner vom LBI. Wichtig sei dabei, dass die Bilder nicht nur illustrativ eingesetzt werden. Deshalb werden sie mit Zusatzdokumenten verwoben: „Von der Filmdose bis hin zu Interviews von Kameraleuten wird das Bildmaterial vernetzt“, so Zechner.

Jegliche Veränderung der Filme wird ausgeschlossen. Nachkolorierungen werden nicht vorgenommen, Ränder werden nicht geschnitten. Keine Bildinformation soll verloren gehen. Am Ende wird eine Onlineplattform eingerichtet, die für jeden zugänglich ist: sowohl für Experten als auch für den interessierten Laien.

Viel Neues wird zutage kommen: etwa Tonaufnahmen der Londoner Archive. „Die meisten bekannten Aufnahmen sind stumme Filme“, sagt Zechner. Wichtiger Teil des Projekts sind die bislang kaum bekannten Aufnahmen der sowjetischen Soldaten, deren Bilder in den Archiven in Russland, dem Baltikum oder der Ukraine liegen. Einen raren Einblick gewährte der einstündige sowjetische Beweisfilm, der bei den Nürnberger Prozessen gezeigt wurde. Dabei begann die Sowjetunion früh, Filmteams zu den Stätten des Holocaust zu senden. Anders als die meisten westlichen Kameraleute handelte es sich hierbei großteils um Profis. Wohl wissend, dass die Bilder als mögliche Propaganda gedeutet werden könnten, entsandten sie ihre besten Leute, um Grausamkeiten des Dritten Reiches zu dokumentieren.

Das eröffnet zwei neue Gesichtspunkte: Erstens wird Material sichtbar, das nicht erst am Ende des Krieges aufgenommen wurde. Der bekannte Film der US-Soldaten über das KZ Buchenwald wurde bei dessen Befreiung aufgenommen. Zweitens werden neue Orte in den Blick genommen, nicht ausschließlich Konzentrationslager. Erschießungsstätten im freien Feld, im Wald oder in Dörfern werden zutage gelangen. „Man darf den Holocaust nicht nur mit Konzentrationslagern in Verbindung setzen. Der Holocaust fand auch außerhalb dieser statt“, sagt Zechner.

LEXIKON

Holocaust leitet sich vom griechischen Wort holókauston ab, das „vollständig verbrannt“ bedeutet. Es bezeichnete einen Opferkult, bei dem Tiere verbrannt wurden. Der Begriff wird seit Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt für Völkermorde verwendet, etwa auch für den an den Armeniern 1915/16. Wegen seiner Verwendung im oftmals antisemitischen Opferkult wird im Judentum der Begriff Shoa („große Katastrophe“)bevorzugt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.08.2018)

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