Die Rückkehr des Klassenkampfs

Welche Überstunde wurde freiwillig geleistet, welche vom Chef angeordnet? Das neue Arbeitszeitgesetz sorgt für Brösel.
Welche Überstunde wurde freiwillig geleistet, welche vom Chef angeordnet? Das neue Arbeitszeitgesetz sorgt für Brösel.REUTERS
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Die Arbeiterkammer hat einen Betrieb geortet, der auf Basis der neuen Zwölf-Stunden-Tag-Regelung Mitarbeitern keine Überstunden zahlt. Den Namen der Firma gibt sie nicht preis.

Wien. „Die Bosse haben das Gesetz bestellt und als Signal für Lohnraub und Ausbeutung verstanden.“ Arbeiterkammerpräsidentin Renate Anderl schaffte es am Freitag, in einem Satz drei klassische Klassenkampf-Begriffe unterzubringen: Bosse, Lohnraub, Ausbeutung. Grund für ihre Rhetorik ist der Fall eines „von Wien aus tätigen internationalen Handelsunternehmens mit 150 Mitarbeitern“. Dieses Unternehmen habe den Beschäftigten eine neue Gleitzeitvereinbarung zur Unterschrift vorgelegt. Darin werde explizit darauf hingewiesen, dass künftig Überstunden erst ab der 13. Arbeitsstunde bezahlt werden.

Ein Mitarbeiter hat den Vertrag der Arbeiterkammer (AK) zugespielt. Diese hat den Vertrag nun in Auszügen veröffentlicht. Für Anderl ist klar: Schuld an dieser Verschlechterung für Arbeitnehmer ist das von der Regierung beschlossene neue Arbeitszeitgesetz, das am 1. September in Kraft tritt. Darin wurden flexiblere Arbeitszeiten verankert, die generell eine tägliche Arbeitszeit von bis zu zwölf Stunden ermöglichen. Der nun bekannt gewordene Fall zeige, dass die AK mit ihrer Kritik an dem türkis-blauen Gesetz richtig lag. Anderl: „Die Abgeltung von Millionen Überstunden steht auf dem Spiel, und es kann den Unternehmen nicht schnell genug gehen, die neue Gesetzeslage auszunutzen.“

Martin Gleitsmann, Leiter der sozialpolitischen Abteilung in der Wirtschaftskammer (WKO), mahnte zur „Rückkehr zu Sachlichkeit“, ging aber auf den konkreten Fall nicht ein, weil der Name des Unternehmens vorerst nicht offiziell bekannt war.

Die Arbeiterkammer gab ihn nicht preis und begründete dies mit dem Schutz der dortigen Mitarbeiter. In der Wirtschaftskammer hieß es, man wisse weder den Namen des Unternehmens, noch kenne man alle Punkte der Gleitzeitvereinbarung. Schließlich veröffentlichte auch die Arbeiterkammer nur jene Passagen, die sie auf einen „Lohnraub“ schließen lassen. Gleitsmann sprach von „singulär herausgegriffenen Vertragspassagen und Mutmaßungen“.

Sozialpartner auf Distanz

So undurchsichtig die Geschichte ist – eines zeigt sie deutlich auf: Die Kluft zwischen Wirtschafts- und Arbeiterkammer ist so groß wie seit vielen Jahren nicht. Es gab Zeiten, da hätten sich die beiden Sozialpartner informell ausgetauscht und den Fall einvernehmlich planiert. Diese Zeiten sind vorerst Geschichte.

Der „Fall“ wirft vielmehr einen Schatten auf die im Herbst beginnenden Kollektivvertragsverhandlungen voraus. Noch vor Kurzem meinten führende Wirtschaftskammerfunktionäre, der Wirbel um den Zwölf-Stunden-Tag werde sich über den Sommer gelegt haben. Spätestens seit Freitag, einem der heißesten Tage des Jahres, ist es klar: Im Herbst müssen sich die Lohnverhandler der Wirtschaft „warm anziehen“. Der Arbeitszeitkonflikt wird die Begleitmusik zum österreichischen EU-Ratsvorsitz spielen.

Dabei sind sich in dem nun aufgetauchten Fall Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer in der Einschätzung grundsätzlich einig. Rechtlich halte die Vereinbarung auch mit dem Zwölf-Stunden-Tag-Gesetz nicht, heißt es in der Arbeiterkammer. „Die Zuschläge bleiben auch bei Gleitzeit erhalten“, betont auch Rolf Gleißner. Er ist Vizechef der Abteilung für Sozialpolitik in der WKO. Bei der Gleitzeit bestimme der Arbeitnehmer selbst in einem Rahmen Beginn und Ende seiner Arbeitszeit. Dieser Spielraum werde nun auf zwölf Stunden erweitert. „Bei Gleitzeit fallen derzeit dann Überstundenzuschläge an, wenn auf Anweisung des Arbeitgebers mehr als acht Stunden gearbeitet wird. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn in Zukunft bis zu zwölf Stunden am Tag gearbeitet werden kann“, sagt Gleißner.

„Aus Angst vor Arbeitsplatzverlust sind viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gezwungen, eine Gleitzeitvereinbarung ohne Überstundenzuschläge zu unterschreiben“, sagt Barbara Teiber, Chefin der Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier (GPA-djp). Der nun diskutierte Fall sei der Beweis dafür. Es handle sich um ein Unternehmen ohne Betriebsrat. (gh/ag)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.08.2018)

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