Auf dem Weg zu einer Bürgerunion?

Ganz gleich, wie die EU-Wahlen 2019 ausgehen – Europa braucht völlig neue Wege in seiner Politikgestaltung.

Auf EU-Ebene bahnen sich momentan viele Veränderungen an: Aktuell die österreichische Ratspräsidentschaft, deren erklärtes Ziel es ist, den Brexit und ein neues, rigides europäisches Migrationsmanagement zum Abschluss zu bringen. Im Mai nächsten Jahres dann die Wahlen zum Europaparlament und die Suche nach einer rasch handlungsfähigen Kommission, der es gelingen muss, bei den europäischen Reformvorhaben rasch wieder Fahrt aufzunehmen.

Vor politischem Erdbeben?

Dass die Europawahlen ein politisches Erdbeben zugunsten der europäischen Populisten bringen könnten, muss man aufgrund aktueller Entwicklungen als zumindest möglich einstufen. Nur eines ist soweit klar – Jean-Claude Juncker wird nicht mehr als Kommissionspräsident zur Verfügung stehen, das hat er bereits angekündigt. Doch bevor Juncker von der europäische Bühne abtritt, brachte er noch einige neue Projekte auf Schiene. Drei Beispiele können hier stellvertretend genannt werden: Das neu geschaffene Europäische Solidaritätskorps gilt als persönliches Lieblingsprojekt des Präsidenten und nimmt mit Oktober offiziell seine Arbeit auf. Bereits seit Anfang des Jahres ist die neue Taskforce für Subsidiaritäts-Fragen am Werken und macht Vorschläge, wo EU-Administration besser auf kleinteiliger Ebene zu passieren hätte.

Und wenn die vorgeschlagene und von Juncker unterstützte Verdoppelung der Gelder für Erasmus+ tatsächlich kommen sollte, so wäre das nur eine Stärkung für den europäischen Wissens- und Arbeitsmarkt.

Übrigens gehen bereits heute 94 Prozent des gesamten EU-Budgets direkt in die Länder, die Städte und die Regionen (und landen damit direkt bei uns Bürgern) und nur sechs Prozent in die EU-Administration. Diese großen Trends muss die neue Kommission aufgreifen, ganz egal, welche Gesichter wir nach den Europawahlen sehen werden. Denn es muss um das Projekt Europa und um uns als europäische Gesellschaft gehen, und nicht um politisches Kalkül. Wohin dieses Projekt in der nächsten Dekade steuern wird, wird also ganz wesentlich vom kommenden Mai abhängen. Die Generation der Millennials, die heute gut und international ausgebildet sind und die Entscheidungsträger von morgen sein werden, arbeitet emsig und unaufhaltsam ihren Teil an der Überführung des europäischen Projektes in eine erfolgreiche Zukunft ab.

Generation der Millennials

Was sie antreibt, ist ihre Bildungserfahrung im Ausland (Erasmus), ihre Vernetzung und Kooperation untereinander (Youth in Action) und ihre Kontakte in die ganze Welt (Youth Ambassadors). Gegenteilig zu aktuellen politischen Fahrwassern ist der Blick dieser Generation auf Europa unverändert positiv, und sie ist bereit, die gebotenen Möglichkeiten anzunehmen.

Es ist bekannt, dass Großbritannien in der EU verblieben wäre, hätte man das Votum besonders der 18- bis 24-Jährigen herangezogen. Die Anmeldungen für das im Oktober startende Solidaritätskorps, mit dem 17- bis 30-Jährige gemeinnützige Arbeit im EU-Ausland leisten können (wie zum Beispiel im Umwelt- oder Integrationsbereich), reißen seit Monaten nicht ab. Und Europas weltweite Jugendnetzwerke – eingerichtet, um über mehrere Jahre zusammen mit höchst interessanten jungen Menschen aus unserer Nachbarschaft (unter anderen Östliche Nachbarschaft, Mittelmeer und Naher Osten, Afrika) an der Intensivierung unserer Beziehungen zu arbeiten – werden von Interessenten regelrecht geflutet. Wenig verwunderlich, wenn man sich auf einmal direkt und offiziell für die EU-Außen- und Nachbarschaftspolitik einsetzen kann. Eine ehrenvolle Aufgabe, deren Privileg auch mir selbst zuteil wurde.

Europa kann noch viel mehr

Europa bietet also viel Attraktives. Die gebildete junge Generation weiß darüber längst Bescheid. Und Europa kann noch viel mehr – denken wir nur an die wichtigsten Bürgerrechte, die wir alle genießen: Personen- und Reisefreiheit, freier Güter- und Warenverkehr, das Recht auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung unserer Menschenrechte, das Recht, nicht diskriminiert zu werden, das Recht auf freien Zahlungsverkehr oder das europäische Wahlrecht (und noch viele mehr). Dort, wo wir heute antieuropäische Politik sehen, sehen wir auch einen Angriff auf einzelne dieser Kernelemente des europäischen Selbstverständnisses.

Der Weitblick unserer europäischen Gründungsväter, denen es vor allem um die Bereitschaft ging, nationale Souveränität zugunsten gemeinschaftlicher Fortschritte aufzugeben, ist auf Ebene der Nationalstaaten zunehmend verloren gegangen. Und auch die Europäischen Institutionen selbst geraten zunehmend in Schwierigkeiten. Denn sie stehen vor ernsthaften Legitimationsproblemen, bedingt durch ihre beschränkten Handlungsmöglichkeiten in den brennenden Fragen von Klimaschutz oder Migration.

Zivilgesellschaft einbeziehen

Die selbstverständliche Zusammenarbeit mit unseren internationalen Partnern zur Lösung dieser Fragen muss von einer neuen Selbstverständlichkeit in der Einbeziehung der europäischen organisierten (!) Zivilgesellschaft, von innovativen Bildungsstätten und von Vertretern mit Fachwissen aus dem Unternehmertum und der NPO-Szene begleitet werden. Die europäischen Behörden brauchen ein solides partizipatives Modell, das sie ausnahmslos allen Stakeholdern anbieten können. Man darf es als erstes gutes Zeichen werten, dass das Juncker-Weißbuch mit den fünf Szenarien für das Europa im Jahr 2025 in einem massiven Konsultationsprozess und in mehr als 1000 sogenannten „Citizens dialogues“ quer durch Europa bis hin zu den Wahlen nächstes Jahr zur Disposition gestellt wird.

Wollen wir unser Europa als ein ökonomisch erfolgreiches, demokratisch penibel legitimiertes und dabei sozial ausnahmslos gerechtes Projekt in die Zukunft führen, so geht es weniger um die Wahlen nächstes Jahr. Es geht um den genannten Schwung, der sich in einzelnen Initiativen zu manifestieren beginnt, und der eine veränderte Ausrichtung in der Gestaltung europäischer Politik ankündigen könnte.

Öffnung und Partizipation

Gefragt sind sowohl jene, die an den Schalthebeln sitzen, als auch jene, die sich täglich mit Europa beschäftigen und bereits viel Wissen in sich vereinen. Öffnung und Partizipation sind die Gebote der Stunde, um breit abgestimmte und wirksame Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Wie auch immer die politische Repräsentation Europas nach dem Mai 2019 aussieht, es wäre in höchstem Maße zu wünschen, dass der Weg der Erneuerung weiter gegangen wird und dem großartigen Engagement vieler Europäer und Europäerinnen damit Rechnung trägt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Philipp Brugner (geb. am 11. November 1987 in Oberwart) ist seit 2016 EU-Jugendbotschafter für die Östlichen Nachbarländer und seit 2018 im Youth Board der Querdenkerplattform: Wien-Europa. Er arbeitet als Projektmanager für EU-geförderte Projekte am ZSI – Zentrum für Soziale Innovation.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2018)

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