Warum Europa für Erdoğan jetzt wieder wichtiger wird

Recep Tayyip Erdoğan.
Recep Tayyip Erdoğan.(c) REUTERS (HANDOUT)
  • Drucken

Die Türkei wendet sich von den USA ab. Russland und China wären jedoch keine strategische Alternative für die Westausrichtung.

Istanbul. Es ist noch nicht allzu lange her, da setzte Recep Tayyip Erdoğan große Hoffnungen in Donald Trump. Nach seinen schlechten Erfahrungen mit Trumps Vorgänger Barack Obama glaubte der türkische Präsident, mit dem neuen Mann im Weißen Haus ins Geschäft kommen zu können. Noch beim Nato-Gipfel im Juli zeigten sich beide Politiker als beste Freunde – doch inzwischen lässt Erdoğan kein gutes Haar mehr am US-Präsidenten. Trump habe den türkischen Nato-Partner mit den jüngsten US-Sanktionen „den Dolch in den Rücken gestoßen“, sagte Erdoğan am Montag. Der türkische Staatschef wirft Trump vor, einen „Wirtschaftskrieg“ gegen die Türkei zu führen, und droht mit einem Ende des Bündnisses mit Washington. Die Achsenverschiebung stärkt die Rolle Europas: Erdoğans anstehender Besuch in Berlin erhält durch die Entwicklung eine neue Bedeutung.

Im Streit um die Inhaftierung des US-Pastors Andrew Brunson in der Türkei hatte Trump am Freitag hohe Strafzölle gegen die Türkei verhängt und die Lira damit auf eine rasante Talfahrt geschickt. Mit seiner harschen Kritik an den USA kann Erdoğan zumindest bisher die Wut vieler Türken über die Misere von sich selbst ablenken.

Auch andere bilaterale Differenzen, etwa wegen der US-Unterstützung für kurdische Milizionäre in Syrien, sorgen für Spannungen zwischen Ankara und Washington. Statt einer Lösung deutet sich neuer Krach an. Die Türkei will bei den neuen Sanktionen Trumps gegen den Nachbarn Iran nicht mitmachen. In der „New York Times“ schrieb Erdoğan, die Türkei werde sich nach neuen Partnern umschauen, wenn die USA nicht mehr Respekt an den Tag legen sollten.

Schon seit Jahren liebäugelt Erdoğan mit engeren Beziehungen zu Russland und China. Zuletzt dachte er laut über einen Beitritt der Türkei zur Brics-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) nach. Auch neue Verbindungen nach Afrika und Ostasien strebt Ankara an.

Bisher betonte die Regierung stets, solche Initiativen seien kein Ersatz für die türkische Westbindung, sondern eine Ergänzung. Doch jetzt fehlt dieser Hinweis. Nach Trumps Verkündung der jüngsten Sanktionen gegen die Türkei am Freitag telefonierte Erdoğan demonstrativ mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin, den er in den vergangenen zwei Jahren häufiger getroffen hat als westliche Spitzenpolitiker. Am Montag wurde Putins Außenminister Sergej Lawrow zu Gesprächen in Ankara erwartet.

Anzeichen für Selbstüberschätzung

Engere Beziehungen zu Russland und China wären für die Türkei allerdings keine strategische Alternative zur Westausrichtung. Mit Russland arbeitet Erdoğan im Syrien-Konflikt zwar zusammen, doch verfolgen beide Länder in Regionen wie dem Kaukasus oder dem Balkan völlig unterschiedliche Ziele. Auch das Verhältnis zu China ist nicht problemfrei: Erdoğan bezeichnete den Umgang Beijings mit der muslimischen Minderheit der Uiguren einmal als „Völkermord“.

Realistischer für die Türkei ist eine Neuausrichtung auf die EU. Die Europäer sind Abnehmer von mehr als 44 Prozent der türkischen Exporte und damit als Handelspartner unverzichtbar. Seit Monaten arbeitet Ankara an einer Normalisierung der Beziehungen zu Europa; der für September geplante erste Staatsbesuch von Erdoğan in Deutschland seit seiner Wahl zum Präsidenten vor vier Jahren ist Ausdruck dieser Bemühungen.

Allerdings wird es keine Rückkehr zum engen Verhältnis geben, das auf dem Höhepunkt des türkischen EU-Strebens im vorigen Jahrzehnt herrschte. Die Türkei sei kein Land mehr, das sich vom Ausland alles vorschreiben lasse, sagte Außenminister Mevlüt Cavusoğlu vor kurzem.

Simon Waldman, Mercator-IPC-Fellow am Istanbul Policy Center, sieht Anzeichen einer türkischen Selbstüberschätzung. Erdoğan betrachte die Türkei als „neue aufstrebende Macht, die die alten Mächte herausfordert“, sagte Waldman der „Presse“. Dass der Türkei die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen fehlen, um als unabhängige Großmacht zwischen Ost und West aufzutreten, wird in Ankara übersehen. Dies könnte auch im Verhältnis zu Europa für neue Probleme sorgen. Waldman zitierte die Einschätzung eines US-Diplomaten in Ankara aus den vergangenen Jahren: Die Türkei habe Ambitionen wie eine Luxuskarosse, aber Möglichkeiten eines Kleinwagens.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

NATO Alliance Summit in Brussels
Österreich

Trump droht Erdogan im Fall Brunson: "Wir setzen nach"

Die US-Regierung droht der Türkei im Ringen um die Freilassung des US-Pastors Andrew Brunson mit weiteren Sanktionen - und stellt klar: "Wir werden nichts für die Freilassung eines unschuldigen Mannes zahlen."
Der Emir von Katar, Tamim bin Hamad al-Thani (l.), mit dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan. Katar hilft der strauchelnden Türkei mit einer kräftigen Finanzspritze aus.
Außenpolitik

Erdoğan schmiedet Bund der Trump-Gegner

Der Kurs der Lira erholt sich leicht. Doch der Geldsegen aus Katar allein (15 Milliarden Dollar) kann die türkische Wirtschaft nicht retten.
Geld ist der dritte Faktor, der für Europa spricht.
Leitartikel

Im türkisch-amerikanischen Poker ist die EU die sichere Bank


Für Ankara ist es überlebenswichtig, dass der Waren- und Geldfluss von und nach Europa nicht versiegt. Die Balkan-Route wird daher dicht bleiben.
FILE PHOTO: Turkish Treasury and Finance Minister Albayrak speaks during a presentation to announce his economic policy in Istanbul
Österreich

Türkische Lira erholt sich nach Geldspritze von Katar

Der Dollar verbilligte sich gegenüber der türkischen Währung. Der türkische Finanzminister sagt den Banken Unterstützung zu. Die Inflation zu bremsen habe höchste Priorität.
Österreich

Währungskrise: Katar verspricht der Türkei Milliarden

Das arabische Land sagte mitten in der Lira-Krise dem türkischen Präsidenten Erdogan Direktinvestitionen im Volumen von 15 Milliarden Dollar zu.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.