Es geht nicht immer nur ums Geld

Google beendet die Selbstzensur in China. Das ist wirtschaftlich verrückt. Aber warum müssen börsenotierte Konzerne moralfreie Zonen sein?

Auf gesunde Reflexe ist Verlass. Klopft der Arzt aufs Knie, schnellt das Bein in die Höhe. Mental läuft es ähnlich. Ohr meldet (im Jänner) an Großhirn: Google will sich nicht mehr dem Zensurdiktat von Maos Erben beugen. Der Suchmaschinengigant droht den Rückzug aus China an (1,3 Mrd. potenzielle Kunden, Wachstumsraten von 40Prozent). Großhirn rumort rasant, dreht eine Extraschleife und ist sich sicher: Die führen was im Schilde! Alles nur ein PR-Gag, um von ihren Datenschutzsünden abzulenken. Ein Marketingschmäh, der kaschieren soll, dass sie im Reich der Mitte gescheitert sind. Ein beinhart kalkulierter Schachzug: zwei Prozent weniger Ertrag, drei Umsatzprozente weniger Rückstellungen für Prozesse und User-Boykotte. Großkonzerne sind, das haben wir mit der Muttermilch aufgesogen, so moralisch wie Taschenrechner.

Aktionäre, Manager, Gründer – alle wollen nur das schnelle Geld. Allein der stets gute Staat kann ihre grenzenlose Gier bändigen. Doch jetzt droht den Ganglien eine Schubumkehr. Google macht Ernst, revoltiert als Firma gegen eine Diktatur und kann damit vorerst nur verlieren. Konkurrenten lachen sich ins Fäustchen. Der Aktienkurs fällt. Sind die verrückt geworden? Nein. Aber der Rückzug nach Hongkong zeigt, dass es auch in Vorstandsetagen Spielräume für Skrupel und kategorische Imperative gibt. Eine Suchmaschine sucht sich selbst, ihre Wurzeln und Werte, und gibt Politikern das Tempo vor. Was suchen wir erstaunte Bürger? Viele Nachahmungstäter. (Bericht: S. 16)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2010)

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