Muss man Menschen vor sexueller Überwältigung schützen?

Eine Wortführerin der #MeToo-Bewegung wird nun selbst beschuldigt – obwohl ihr angebliches Opfer offenbar freiwillig mitgemacht hat.

Man zögert als Mann für gewöhnlich, sich kritisch über #MeToo-Belange zu äußern: Es steht uns Männern nicht gut an, das Leid von Frauen zu beurteilen, vor allem, wenn es ihnen von unsereinem zugefügt wurde (oder worden sein soll, das muss man einräumen, es gibt auch falsche Anschuldigungen).

Beim aktuellen, von der „New York Times“ berichteten Fall muss man weniger Skrupel haben: Der Schauspieler Jimmy Bennett wirft seiner Kollegin Asia Argento – sie ist führende Exponentin der #MeToo-Bewegung – einen „sexual assault“, (sexuellen Angriff) vor. Argento hat alle seine Vorwürfe zurückgewiesen, sie sind freilich längst medial verbreitet.

Sie soll ihm 2013 in einem kalifornischen Hotel erst Alkohol verabreicht und dann mit ihm Oralsex und Geschlechtsverkehr gehabt haben. Am nächsten Tag, nach einem gemeinsamen Lunch, habe Bennett sich laut „NYT“ bei der Heimfahrt „extremely confused, mortified, and disgusted“ (extrem verwirrt, beschämt und angewidert) gefühlt. Das behauptete er aber erst viel später, noch einen Monat nach dem Erlebnis im Hotelzimmer hatte er Argento eine freundliche Twitter-Botschaft geschickt. Doch dann setzte er sie mithilfe von Anwälten unter Druck – und soll Schweigegeld von 380.000Dollar erhalten haben. Wichtig für diesen „Deal“ war, dass Bennett bei dem Vorfall erst 17 war, 20Jahre jünger als Argento – in Kalifornien liegt das Mindestalter für einvernehmlichen Sex bei 18 Jahren.

Nun fordert Bennett noch viel mehr Geld – 3,5 Millionen Dollar –, sein Anwalt erklärt: Es sei Bennett unerträglich gewesen zu sehen, wie sich Argento als Opfer (des Filmproduzenten Harvey Weinstein, dem sie Vergewaltigung vorwirft) präsentiert habe, das habe in ihm Erinnerungen an das Erlebnis im Hotel geweckt.

Nun kann es gut sein, dass diese angeblichen Erinnerungen unerfreulich und peinlich, ja: verstörend für Bennett sind – die Affäre dürfte auch einen ödipalen Beigeschmack gehabt haben, die beiden haben schon 2004 im Film „The Heart Is Deceitful above All Things“ Mutter und Sohn gespielt. Doch das kann bei Erinnerungen an sexuelle Erlebnisse vorkommen, das werden viele Menschen beiderlei Geschlechts bestätigen, die schöne Literatur ist voller solcher Geschichten; das heißt aber nicht, dass diese Erlebnisse erzwungen waren. Das heißt schon gar nicht, dass sie strafrechtlich relevant sind. Im Fall Argento–Bennett sind sie es wegen des Schutzalters, aber das ist eine andere Sache.

Abgesehen davon: Soll man einen jungen Mann – oder eine junge Frau – davor schützen, freiwillige sexuelle Erlebnisse zu machen, die er/sie später vielleicht bereuen wird? Im Sinn des Spruchs der Künstlerin Jenny Holzer, „Protect me from what I want“? Wohl eher nicht. Das Terrain ist und bleibt heikel, solang die menschliche Sexualität nicht völlig von allen gefährlichen, ambivalenten und anstößigen Aspekten gereinigt ist. Es ist zu bezweifeln, dass solch eine Korrektur unserer Geschlechtlichkeit möglich ist, und es ist fraglich, ob wir sie uns wirklich wünschen sollten: Dass Sexualität bisweilen mit Reue und Scham verbunden ist, das hat nicht erst die christliche Religion erfunden, das liegt wesentlich daran, dass sie – objektiv und subjektiv – so wichtig ist, dass sie imstande ist, einen Menschen zu überwältigen, ganz ohne externe Gewaltanwendung. Ja, sie kann unser Konzept des autarken, stets vernünftig entscheidenden Individuums erschüttern; Romantiker preisen das, die Gerichtsbarkeit geht es nichts an.

Diese sollte sich tunlichst darauf beschränken, nachweisbare sexuelle Gewalt zu ahnden und den Begriff Gewalt nicht zu überdehnen, etwa durch die notorisch schwer zu fassende „strukturelle Gewalt“. Alle potenziell leidvollen sexuellen Erfahrungen unter Strafe zu stellen kann und soll nicht Aufgabe des Rechts sein.

E-Mails an:thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2018)

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