Salzburgerland: Durch ein Fenster in den Alpen

Krimml
Krimml Imago
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Beim Alpine Peace Crossing wird das Schicksal jüdischer Flüchtlinge wieder lebendig. Der Weg von Krimml über den Tauernpass nach Südtirol war für viele 1947 der letzte Ausweg. Alljährlich gibt es eine Gedenkwanderung.

Wer das kleine Bergdorf Krimml im westlichsten Winkel des Pinzgaus besucht, der macht das gewöhnlich wegen der Wasserfälle, die mit 380 Metern Fallhöhe ein rauschendes Spektakel liefern. Das tun sie rund um die Uhr, weshalb der Krimml-Besucher morgens keine Eile hat, Bett und Frühstücksbüffet zu verlassen. An einem Tag im Sommer ist das anders. Am letzten Juniwochenende sammelt sich eine große Menge Menschen im Morgengrauen vor der Kirche, steht eine Kolonne mit Kleinbussen Spalier. Hektisch werden Rucksäcke verstaut, Passagiere zu ihren Sitzplätzen gewiesen, rattern die Dieselmotoren durch die Stille kurz vor sechs Uhr, was durch das immerwährende Rauschen des Wasserfalls etwas gedämpft wird.

Das Alpine Peace Crossing ist in Krimml mittlerweile eine feste Institution. Menschen unterschiedlichsten Alters, unterschiedlichster Herkunft und alpiner Erfahrung wandern an diesem Tag auf den Spuren einer historischen Begebenheit über den Tauernpass hinüber in das Südtiroler Ahrntal. Es ist genau der gleiche Weg, den 1947 einige Tausend jüdische Flüchtlinge wählten, um zur italienischen Küste und zu den Schiffen zu kommen, die sie in den gerade entstehenden Staat Israel brachten. Der beschwerliche Weg war für die Flüchtlinge die einzige Option, nachdem auf Initiative der Engländer die bis dahin übliche Fahrt über den Brenner blockiert wurde.

Organisiert wurde das seinerzeit von Marko Feingold, der vier Konzentrationslager überstand. Feingold ist mit seinem biblischen Alter von 105 Jahren und seiner faszinierenden Vitalität die alles überragende Symbolfigur des Alpine Peace Crossing. Den langen Weg über die Berge kann er sich nicht mehr antun, aber die persönlichen Grußworte an die Wanderer beim Krimmler Tauernhaus sind ein festes Ritual. Das Krimmler Tauernhaus, ein komfortables Berggasthaus auf 1622 Metern Höhe, ist die Anlaufstelle der Bus-Karawane und der Startplatz der Wanderung. Für die Flüchtlinge war es eine wichtige, wahrscheinlich überlebenswichtige Zwischenstation, wurden sie doch hier nach einem mehrstündigen Fußmarsch von Krimml von der Wirtin versorgt. Für die rund 120 Teilnehmer des Alpine Peace Crossing ist es die letzte Gelegenheit für eine Wegzehrung und die Beschaffung von Proviant.

Hinauf von Krimml

Dass hier um sieben Uhr morgens eine Menschentraube das Haus umlagert, ist für die junge Mitarbeiterin an der Bar nichts Ungewöhnliches. „Alles ganz normal. Letztes Jahr, als der Bundespräsident dabei war, da war mehr los.“ 2017 wanderte Alexander Van der Bellen die leichte erste Etappe bis zur Windbachalm mit und bescherte entsprechendes Medieninteresse. Mittlerweile verlagert sich der Verein Alpine Peace Crossing mehr auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik, was auch auf Kritik unter anderem von jüdischer Seite stößt. Auch Marko Feingold sieht das mit Unbehagen, da die Situation der Flüchtlinge 1947 mit denen von heute nicht vergleichbar sei, die in Österreich bereits gut versorgt werden und unter denen sich viele befinden, die den Juden feindlich gesinnt sind.

Im Vergleich zum Vorjahr ist es etwas ruhiger, die Karawane zieht taleinwärts auf dem flachen Weg entlang der Krimmler Ache, bis dann rechts ein steilerer Weg durch den Zirbenwald abzweigt. Vorn marschiert ein Nationalparkranger, dazwischen begleiten Bergretter und ein Arzt die Gesellschaft, bei der auch etliche ältere Wanderer dabei sind.

Beim Alpine Peace Crossing, das es seit einem Jahrzehnt gibt, nehmen alljährlich viele Besucher aus Israel teil. Überlebende des Flüchtlingszugs sind die seltene Ausnahme. Die meisten sind zu alt und körperlich dazu nicht mehr in der Lage. Eine dieser Ausnahmen ist Tova Zehavi aus Rehovot bei Tel Aviv, die als Kind mit ihrer Mutter die Flucht wagte. „Wir packten unsere Rucksäcke, wurden nachmittags auf Lastwagen nach Krimml gebracht. Dort gingen wir drei Stunden zum Tauernhaus. Ich erinnere mich noch gut an die Wirtin, die Großmutter des jetzigen Wirts. Sie erwartete uns mit einem großen Topf voll mit heißer Suppe.“ So gut ausgerüstet wie heute mit Sportbekleidung und Bergschuhen waren die Flüchtlinge damals nicht annähernd. Hinzu kam, dass sie durchweg geschwächt und unterernährt waren. Heute sind das kaum vorstellbare Voraussetzungen. Doch die Angst motivierte die Menschen, und die Angst ging auch am Ziel nicht weg. „Oben auf dem Pass war keiner wirklich glücklich“, erinnert sich Tova Zehavi, „wir hatten einfach Angst, wussten nicht, wie wir erwartet würden.“ Einige Meter vor Zehavi, ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter geht eine zierliche Frau, begleitet von zwei jüngeren Männern. Die israelische Botschafterin Talya Lador-Fresher absolviert auch heuer wieder einen Teil der Strecke.

Nach dem schattigen Zirbenwald öffnet sich der Weg, quert einen breiten Talboden entlang des Bachs bis zur Windbachalm, der ersten Pausenstation. Dort erzählen afghanische Flüchtlinge von ihren Erfahrungen, stimmt eine Sängerin afrikanische Liebeslieder an. Das ist die Ruhe vor dem steilen Anstieg, der sich am Ende des Talbodens links einen steilen Hang hinaufschlängelt bis zum Krimmler Tauernpass auf 2634 Metern Höhe, für den matschige Schneefelder zu queren sind. Schafherden beäugen die Wanderer, die in kleinen Gruppen bergauf steigen. Es ist kurz nach Mittag, als sich die ersten Gruppen auf der engen und steinigen Passhöhe bei der Gedenktafel sammeln. Wasserflaschen kreisen, Handykameras klicken, neugierige Blicke streifen über die steilen Hänge auf der Südseite hinunter zum Ahrntal.

Hinunter ins Ahrntal

Der lange Weg hinunter nach Kasern ist zum Glück mit breiten Felsplatten gepflastert, was das Gehen leichter macht, er wurde aber nicht wegen der Bergwanderer von den Südtirolern so ausstaffiert. Früher haben die Bauern aus dem Ahrntal die Kühe über den Pass auf die Wiesen auf der Nordseite getrieben. Heute werden sie kostengünstiger und risikoärmer mit Lastwagen chauffiert. Allmählich werden die Muskeln müde, gewinnen Hunger und Durst die Oberhand. Einkehrmöglichkeiten gibt es zwischen Krimmler Tauernhaus und dem Ahrntal nicht. Da bekommt die Ankunft bei der Tauernhütte auf gut 2000 Metern und sozusagen vor der Zielgeraden eine besondere Begehrlichkeit. Die Holzbänke vor der Hütte sind schnell besetzt, und es landen Speckbrote, Kaiserschmarren und Weingläser auf den Tischen. Auch die blinde Teilnehmerin aus Baden-Württemberg erreicht ohne erkennbare Erschöpfungssymptome zusammen mit einer Begleiterin die Hütte. Eine gute Stunde Gehzeit ist es dann noch hinunter zum Talboden und weiter auf der Schotterstraße vorbei an der Heiliggeistkirche bis nach Kasern, wo beim Museumsgebäude ein Büffet mit Käse, Brot und Getränken für die müden Wanderer aufgebaut ist, bevor gegen sechs Uhr die Busse zurück nach Krimml starten.

Die Flüchtlinge stiegen seinerzeit weiter taleinwärts in die Busse, die sie zunächst nach Meran und dann nach Mailand brachten. Für die erfolgreiche Passage waren Fantasie und Improvisationsvermögen notwendig. Marko Feingold weiß dazu viele Geschichten, wie die vom Bürgermeister und der Gendarmerie in Krimml, die sie nicht passieren lassen wollten, bis von oben eine entsprechende Anweisung kam. „Ich hab ihnen gesagt, dass sie sie laufen lassen sollen, dann seien sie die damals ungeliebten Juden wieder los.“ Und das hat geholfen. Auch auf der italienischen Seite war Feingold nicht um Einfälle verlegen, erzählte bei den ersten Passagen über den Brenner den Grenzern, dass er von der Regierung den Auftrag habe, versprengte Italiener in die Heimat zurückzubringen. „Da halfen mir mein italienischer Anzug und die Sprachkenntnisse. Ausweise hat keiner verlangt.“

www.alpinepeacecrossing.org

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.08.2018)

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