Chemnitz: Polizei warnt vor zunehmender Selbstjustiz

Die Anzahl der zur Verfügung stehenden Polizisten gerät in die Kritik in Sachsen.
Die Anzahl der zur Verfügung stehenden Polizisten gerät in die Kritik in Sachsen.APA/AFP/dpa/ANDREAS SEIDEL
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Wenn die Polizei die Bürger nicht mehr schützen könne - auch wegen Personalmangels - wachse die Gefahr, dass Bürger das Recht selbst in Hand nehmen, mahnt die Polizei-Gewerkschaft.

Nach dem Tod eines Mannes beim Stadtfest und Angriffen auf Ausländer bleibt die Lage in Chemnitz angespannt. Bei zwei Protestaktionen muss die Polizei Rechtsextreme und Gegendemonstranten trennen. Schlimmeres konnte verhindert werden - doch nun meldet sich die Polizei zu Wort.

Bei neuen Protesten rechter und linker Demonstranten in der Chemnitzer Innenstadt sind am Montagabend mindestens sechs Menschen verletzt worden. Es seien Feuerwerkskörper gezündet und Gegenstände geworfen worden, hieß es bei der Polizei. Nach Ende der beiden Demonstrationen räumte ein Polizeisprecher Personalmangel in den eigenen Reihen ein.

Anlass der Proteste waren gewalttätige Ausschreitungen am Wochenende am Rande des Stadtfestes in Chemnitz. Auslöser dafür war, dass ein 35 Jahre alter Deutscher durch Messerstiche getötet worden war. Gegen einen 23 alten Syrer und einen 22 Jahre alten Mann aus dem Irak wurde Haftbefehl erlassen.

"Schlechtes Zeichen für den Rechtsstaat"

Der Städte- und Gemeindebund kritisierte die von der Polizei eingeräumte Unterbesetzung bei den jüngsten Demonstrationen in Chemnitz. "Das ist ein schlechtes Zeichen für den starken Rechtsstaat", sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg dem "Handelsblatt" (Dienstag). "Hier müssen die Konzepte nachgebessert werden, damit sich derartige Ereignisse nicht wiederholen."

An den Demonstrationen am Montagabend nahmen mehrere Tausend Menschen teil. Die Polizei versuchte mit einem Großaufgebot die von Rechten dominierte Protestveranstaltung und eine vom Bündnis "Chemnitz nazifrei" organisierte Veranstaltung zu trennen. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben sollen. Auch in Düsseldorf versammelten sich wegen der tödlichen Messerstiche in Chemnitz rund 150 Demonstranten aus dem rechten Spektrum vor dem Landtag, wie die Polizei berichtete. Ihnen standen etwa 250 Gegendemonstranten gegenüber.

Seehofer bietet Sachsen Unterstützung an

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer hat den sächsischen Sicherheitsbehörden Hilfe angeboten. "Sofern von dort angefordert, steht der Bund mit polizeilichen Unterstützungsmaßnahmen zur Verfügung", erklärte Seehofer am Dienstag in Berlin. Die Betroffenheit der Chemnitzer nach der tödlichen Messerattacke sei verständlich.

"Aber ich will auch ganz deutlich sagen, dass dies unter keinen Umständen den Aufruf zu Gewalt oder gewalttätige Ausschreitungen rechtfertigt", ergänzte der CSU-Chef. "Hierfür darf es in unserem Rechtsstaat keinen Platz geben." Sein Mitgefühl gelte den Angehörigen des Opfers der Messerattacke, sagte Seehofer weiter. "Ich bedaure diesen Todesfall zutiefst."

Kritik an Seehofer

Der Grünen-Politiker Konstantin von Notz nannte den Umgang von Seehofer mit den Vorfällen in Chemnitz skandalös. Er kritisierte, dass Seehofer dazu seit Tagen schweige. "Der Bundesinnenminister muss sich fragen lassen, ob das Amt für ihn noch das richtige ist", sagte der Innenpolitiker am Dienstag dem Nachrichtenportal t-online. Der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, erklärte: "Als Bundesinnenminister ist es Seehofers Pflicht zu erklären, welche Konsequenzen er aus den Ausschreitungen in Chemnitz ziehen will."

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnte vor dem Risiko zunehmender Selbstjustiz. "Der Staat ist dafür da, mit Polizei und Justiz seine Bürger zu schützen", sagte der GdP-Bundesvorsitzende Oliver Malchow der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Dienstag). "Wenn er das in den Augen vieler Bürger aber nicht mehr leisten kann, besteht die Gefahr, dass die Bürger das Recht selbst in die Hand nehmen und auf Bürgerwehren und Selbstjustiz bauen." Dies sei ein erschreckender Trend. Über die sozialen Medien könnten viele Menschen schnell mobilisiert werden. "Aus jeder Dorfschlägerei kann eine Hetzjagd werden."

Nach Ansicht der GdP hat der Staat mit Schuld an dieser Entwicklung. Der jahrelange Abbau von insgesamt 16.000 Stellen bei der Polizei habe dazu geführt, dass alle Einsatzkräfte stets verplant seien. Die GdP fordere 20 000 neue Stellen.

Stark polarisierte Gesellschaft

Nach den jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz wächst die Kritik an zunehmender Aggression und Gewaltbereitschaft gegen Zuwanderer. "Der Rassismus bricht sich unverhohlen Bahn", sagte der Experte für Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung, Robert Lüdecke, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. "Die Gesellschaft ist stark polarisiert, Menschen äußern immer unverhohlener, welche Menschen sie in Deutschland haben möchten und welche nicht." In den sozialen Netzwerken werde ungehemmt gehetzt.

Gerade die rechtsextreme Szene ist aus Sicht Lüdeckes sehr gut vernetzt. "Sie haben inzwischen leider auch jahrelange Erfahrungen, wie sie schnell mobilisieren können." Soziale Netzwerke spielten dabei eine entscheidende Rolle, "um auch über den eigenen Dunstkreis hinaus Mitstreiter für Demonstrationen und andere Aktionen zu finden". In Chemnitz gebe es eine organisierte rechtsextreme Szene und "das klassische Pegida-Mitläufertum", unterstützt durch die Hooligan-Szene.

Auch der sächsische Verfassungsschutz hält eine Beteiligung regionaler Hooligan-Gruppierungen an den Ausschreitungen für möglich. "Diese Szene war auch in der jüngeren Vergangenheit wiederholt beteiligt an gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Personen mit Migrationshintergrund", sagte Verfassungsschutzpräsident Gordian Meyer-Plath der "Rheinischen Post" (Dienstag).

Fußball-Umfeld

Teil der regionalen gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene seien "aus dem Umfeld des lokalen Fußballvereins agierende, feste rechtsextremistische Hooligan-Strukturen", wie etwa die "NS-Boys" oder die Gruppe "Kaotik Chemnitz". Der sächsische Generalstaatsanwalt Hans Strobl lässt die Sondereinheit "Zentralstelle Extremismus Sachsen" ermitteln.

Der SPD-Innenexperte Burkhard Lischka warnte vor der Gefahr inszenierter bürgerkriegsähnlicher Zustände. "Es gibt in unserem Land einen kleinen rechten Mob, der jeden Anlass zum Vorwand nimmt und nehmen wird, seine Gewaltfantasien von bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf unsere Straßen zu tragen", sagte Lischka der "Rheinischen Post" (Dienstag).

Dass im Bundestag eine Partei diese Exzesse gegen ausländische Mitbürger als gerechtfertigte Selbstjustiz beklatsche, zeige, "dass die Mehrheit unseres Landes noch viel lauter werden muss, wenn es um Rechtsstaat, Demokratie und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft geht". Lischka spielte damit auf die AfD an. Ihr Bundestagsabgeordneter Markus Frohnmaier hatte auf Twitter geschrieben: "Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach!"

Maas: "Menschenwürde verteidigen"

Außenminister Heiko Maas rief zur Verteidigung demokratischer Werte in der sächsischen Stadt und international auf. "Rechtsextremismus ist nicht nur eine Bedrohung von Menschen anderer Herkunft, sondern eine Gefährdung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaften", sagte der SPD-Politiker in Berlin. "Wir müssen alles tun, um Menschenwürde, Demokratie und Freiheit zu verteidigen, nicht nur in Chemnitz, sondern überall auf der Welt."

Regierungssprecher Steffen Seibert hatte "Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens" verurteilt. Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) sprach von einer "neuen Dimension der Eskalation". Sein Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) sagte: "Es ist widerlich, wie Rechtsextreme im Netz Stimmung machen und zur Gewalt aufrufen. Wir lassen nicht zu, dass das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird."

(APA/dpa)

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