Der "ungeuerliche Vorgang" von Chemnitz

Blumen und Kerzen am Tatort.
Blumen und Kerzen am Tatort. (c) APA/Monika Skolimowska (Monika Skolimowska)
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Die ostdeutsche Stadt kommt nicht zur Ruhe: Nun wird ausländerfeindlichen Gruppen ein vertraulicher Haftbefehl zugespielt. Haben die Rechten Helfer in den Behörden?

Wien/Berlin. Das Dokument mit dem Wappen Sachsens und dem Stempel des 27. August verbreitet sich rasch in einschlägigen Netzwerken. Die rechte Gruppe Pro Chemnitz teilt es. Genauso wie Lutz Bachmann, der wegen Volksverhetzung verurteilte Mitbegründer der ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung. Auch die umstrittene Plattform anonymousnews.ru bekommt das Papier „zugespielt“. Man liest darin von den fünf Messerstichen, die dem Opfer, einem 35-jährigen Deutschen, „ohne rechtfertigenden Grund“ zugefügt wurden. Auch der Name des Toten ist vermerkt, genauso wie Name und Anschrift des mutmaßlichen Haupttäters, eines 22-jährigen Irakers, dem dieses Dokument gilt. Es ist der Haftbefehl.

Dass das vertrauliche Papier in rechten Internetkreisen landet, sorgt für den nächsten Eklat in diesen Chaostagen von Chemnitz, die mit den tödlichen Messerstichen gegen Daniel H. begonnen haben. Die Gewalttat entfesselte Wut und Fremdenhass in den Straßen von Chemnitz, der ehemaligen Karl-Marx-Stadt, in der nun Rechte Hetzjagd auf Migranten machten. Seit Tagen wühlt der Fall die Republik auf.

Und nun gelangt die rechte Szene in den Besitz eines Haftbefehls. Sachsens Vize-Ministerpräsident, Martin Dulig (SPD), sprach von einem „ungeheuerlichen“ Vorgang. Auch CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer geißelte die Veröffentlichung als „inakzeptabel“. Die Staatsanwaltschaft schaltete sich wegen Verletzung des Dienstgeheimnisses ein. Aber auf die Schlüsselfrage gab es noch keine Antwort: Wo war das Leck? In der Justiz? Oder doch im Polizeiapparat, den Sachsens Ministerpräsident, Michael Kretschmer (CDU), noch am Mittwoch für seinen „Superjob“ während der Proteste der vergangenen Tage gelobt hatte?

Die Veröffentlichung des Haftbefehls kommt zur Unzeit. Sie nährt Spekulationen, rechte Gruppen wie Pegida hätten Anhänger und Helfer im Sicherheitsapparat. Erst in der Vorwoche war Sachsens Polizei wegen der unterstellten Nähe als „Pegizei“ verspottet worden. Damals hatten Beamte ein ZDF-Team während einer Demonstration bei der Arbeit behindert. Ein Pegida-Anhänger mit schwarz-rot-goldenem Hütchen hatte sich bei der Polizei beschwert. Es stellte sich heraus: Der Hutträger ist im Brotberuf Mitarbeiter des Landeskriminalamts Sachsen. Es gibt noch andere Fälle. Ein Trend lässt sich daraus nicht ableiten. Die Polizei sei eben ein Abbild der Gesellschaft, sagte ein Sprecher jüngst. Und in Sachsen wählte bei der Bundestagswahl mehr als jeder Vierte AfD, nämlich 27 Prozent.

Die Protestpartei heizt die Stimmung in den sozialen Netzwerken an. Von der ausländerfeindlichen Gewalt in Chemnitz distanziert sie sich, aber beschwichtigt zugleich. „Wenn eine solche Tötungstat passiert, ist es normal, dass Menschen ausrasten“, sagte Parteichef Alexander Gauland über den rechten Mob. „Massenmigration“ bedeute „Messermigration“, lautet die Parole der AfD.

AfD und Pegida arbeiten zusammen

Zur ersten AfD-Demo am Sonntag in Chemnitz kamen 100 Menschen. Sie verlief friedlich. Die Partei versucht weiter, an die Proteste anzudocken. Am Samstag wird Pegida durch die Straßen in Chemnitz marschieren. Und zwar nicht allein. Es ist eine Kooperation mit AfD-Landesverbänden, darunter jenem in Thüringen. Deren Chef hat sich auch angesagt: Björn Höcke will kommen, der Demagoge des rechtsnationalen „Flügels“ in der AfD.

Seit Monaten nähert sich die AfD an Pegida an. Unter Parteichefin Frauke Petry wurde die Kooperation mit der ausländerfeindlichen Bewegung noch untersagt. AfD-Politiker sollten dort nicht auftreten. Die Zusammenarbeit mit der islamfeindlichen Bewegung würde bürgerliche Wähler vergraulen, so Petrys Kalkül. Sie wollte auch Höcke aus der AfD werfen. Es kam anders. Petry ging, Pegida und Höcke sind noch da.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2018)

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