Wie Ryder Carroll seine „Bullet Journal-Methode" erfunden hat

„Bullet Journal“- Erfinder Ryder Carroll auf Besuch in Wien, wo er aufgewachsen ist.
„Bullet Journal“- Erfinder Ryder Carroll auf Besuch in Wien, wo er aufgewachsen ist.(c) Mirjam Reither
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Ryder Carroll hatte es als Kind nicht leicht. Er konnte sich auf vieles nicht konzentrieren. So musste er früh einen Weg finden, sich selbst zu helfen. Er entwickelte die „Bullet-Journal-Methode“–und ist damit heute groß im Geschäft.

Der US-Amerikaner Ryder Carroll hat mit einem leeren Büchlein und einer vier minütigen Videoanleitung einen wahren Organisationshype bei Millionen von Menschen ausgelöst – und nebenbei eine Menge Geld verdient. Dabei war das gar nicht seine Intention. Die „Bullet Journal“-Methode entstand viel mehr aus (s)einer Not heraus. Sie hat, glaubt man der riesigen „BuJo“-Community auf YouTube, Instagram, Facebook und in anderen sozialen Medien, Ordnung in ihr Leben gebracht. Und zwar auf völlig analoge Weise, nur mit Heft und Bleistift, und das im digitalen Zeitalter.

Mit dem gelernten Digital Product Designer, der übrigens in Wien aufgewachsen ist und fließend Deutsch spricht, hat sich „Die Presse am Sonntag“ unterhalten.

Wie kamen Sie auf die Idee, eine Zeitmanagementmethode zu entwickeln?

Ryder Carroll: Das war weniger eine Idee als vielmehr ein Prozess. Schon im Kindergarten wurde anderen und mir schnell klar, dass ich anders bin als andere Kinder. Wenn mich etwas nicht interessierte, war ich absolut nicht in der Lage, mich darauf zu konzentrieren. Das änderte sich auch in der Schule nicht. Was auch immer ich tat, selbst wenn ich mich dazu zwang aufzupassen, es funktionierte einfach nicht. Ich wurde von Psychologen untersucht, und es stellte sich heraus, dass es mir nicht an intellektuellen Fähigkeiten mangelte, sondern, dass ich unter einem ausgeprägten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) litt.

Worauf konnten Sie sich denn konzentrieren?

Auf alles und nichts. Wenn mir ein Lehrer Biologie spannend näherbrachte, konnte ich mir alles merken, war sogar der Beste in der Klasse. Wenn mir – wie in Mathematik – nur Zahlen präsentiert wurden, stieg ich sofort aus. Wieso das so war, habe ich nie verstanden. Was ich aber sehr bald verstand, war, dass ich anders bin als alle anderen.

Nicht unbedingt ein gutes Gefühl.

Nein, aber ich hatte eben manchmal diese Erfolgserlebnisse, weil ich Aufgaben, die mich interessierten, besser löste als all meine Kollegen. Und ich bin stur und wollte nicht akzeptieren, dass ich mein Leben lang der Letzte sein soll. Daher habe ich sehr früh begonnen, mir zu überlegen, wie ich mir selbst helfen und mich bestmöglich organisieren kann.

Wie haben Sie das gemacht?

Das war ein interessanter, langer Weg. Ich habe es sehr spannend gefunden herauszufinden, wie ich Dinge besser machen kann. Leere Flächen einteilen, Formulare kreieren, Formen zeichnen, darin war ich schon immer besonders gut. Ich war auch perfekt darin, mein Zimmer zu organisieren. Es gab nie Unordnung, ich fand immer alles sofort. Aber ich habe schnell kapiert, dass ich für jede Aufgabe ganz unterschiedliche Herangehensweisen entwickeln muss. In Mathematik habe ich mich ganz anders organisiert als in Geschichte oder später in meinem Grafikstudium. Mit der Zeit lernte ich allmählich, mich auch größeren, komplexeren Aufgaben zu stellen, wenngleich sie auf mich anfänglich immer nur wie ein bedrohliches Chaos wirkten. Ich bemerkte dabei, dass sich manche meiner Ansätze viel konsistenter bewährten als andere. Das sind jene, die ich weitergebe.

Eigentlich haben Sie Ihre Methode aber nur für sich selbst entwickelt.

Ja, nur für mich.

Sie dachten nicht daran, damit auch Geld zu verdienen?

Nein, denn ich arbeitete als Digital Product Designer, und das machte mir viel Spaß. Und ich wusste ja absolut nicht, ob meine Methode für irgendjemanden anderen hilfreich sein könnte. Aber dann passierte 2007 Folgendes: Ich arbeitete damals für ein Modelabel. Eines Tages ging ich am Schreibtisch einer Kollegin vorbei, die gerade verzweifelt dabei war, ihre Hochzeit zu organisieren. Alles wirkte total chaotisch. Ich habe ihr spontan angeboten, ihr zu zeigen, wie ich mich organisiere. Zu meinem großen Erstaunen sagte sie Ja. Als ich ihr von meinem System bei einem Kaffee erzählte, hatte ich Sorge, sie könnte mich für völlig verrückt halten. Vielleicht würde jemand anders gar nicht verstehen können, was ich da jeden Tag mache. Als ich nach einer halben Stunde mit meinen Ausführungen fertig war, starrte sie mich nur mit großen Augen an und sagte: „Du musst dieses Konzept mit anderen Menschen teilen.“ Da kam es mir zum ersten Mal in den Sinn, dass es auch anderen Menschen etwas bringen könnte.

Und Sie damit etwas verdienen könnten?

Nein, das war nie mein Ziel, darum ging es mir überhaupt nicht. Der Gedanke kam mir erst zehn Jahre später.

Interessant.

Ich war nie eine geldgetriebene Person. Solange ich gesund bin, essen und reisen kann, bin ich zufrieden. Ich habe erfahren, wie es ist, finanzielle Probleme zu haben. Meine Eltern sind Lehrer, und sie haben mich auch finanziell während des Studiums unterstützt, so gut sie nur konnten, aber ohne ein Stipendium hätte ich in den USA niemals studieren können. Und auch als ich nach dem Studium zu arbeiten begann, hatte ich Geldsorgen – so wie fast alle jungen Menschen, die in New York leben. Diese Stadt ist so teuer. Langsam, aber sicher habe ich mich hinaufgearbeitet. Als ich 2013 die Web-Plattform Bullet Journal launchte, ging es mir finanziell schon gut.

Sie haben Ihre Methode der Web-Community also gratis zur Verfügung gestellt?

Ja. Ich habe in meinem Leben so viel von Designern und Programmierern gelernt, die einfach besser waren als ich und ihr Wissen umsonst im Internet weitergegeben haben. Das hat etwas sehr Schönes, habe ich gefunden, und wollte dasselbe tun. Ich habe mich deshalb gefragt, was ich besonders gut kann, das gleichzeitig anderen etwas bringen könnte. Da fiel mir nur eines ein: zeigen, wie ich mein Notizbuch verwende. Und so kam es, dass ich dem ganzen System einen Namen gab, die digitale Plattform Bullet Journal kreierte und sie im August 2013 launchte. Jeder konnte dort nachlesen, was ich mit meinem Heft mache. Bald ging ich dazu über, das Ganze in einem Video zu erklären, weil die Leute nicht gern viel Text lesen wollen. Ich achtete darauf, dass es nicht einmal vier Minuten dauert, denn ich hatte auf Google gelesen, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Onliner bei etwa drei Minuten liegt.

Und was passierte dann?

Auf einmal explodierte das Ganze. Es bildete sich binnen eines Jahres eine große Bullet-Journal-Community. Und es entstanden auch Subcommunitys: Eltern, alleinerziehende Mütter, Studenten, Kriegsveteranen, Soldaten, Menschen mit Zwangsstörungen oder ADHS, sie alle verwendeten BuJo, um ihre Zeit besser zu planen, und viele von ihnen merkten, dass sich damit in ihrem Leben eine Menge veränderte. Viele von ihnen teilten ihre Erfahrungen auf der Plattform mit anderen, es war ganz erstaunlich.

Vom Kriegsveteranen bis zur alleinerziehenden Mutter – das ist ein großer Bogen.

Für mich war entscheidend, dass mein Konzept die höchst mögliche Flexibilität hat. Ich konnte mich nie mit rigiden Systemen anfreunden. Ich sehe das Bullet Journal wie ein leeres Haus mit einem sehr gesunden Fundament. Wie die Zimmer angeordnet werden, wie es eingerichtet wird, entscheidet jeder selbst. Wenn jemand es als Tagebuch verwendet, super! Wenn jemand ein Skizzenbuch braucht oder einfach To-do-Listen schreiben will, ist das genauso okay. Ich stelle nur die Technik zur Verfügung, wie man all das organisieren kann. Aber die Flexibilität ist es, weshalb es für so viele Menschen funktioniert. Nach einem Jahr beschloss ich, mich mehr auf diese Community zu konzentrieren, und habe einen Kickstarter lanciert. (Kickstarter ist eine US-amerikanische Crowdfunding-Plattform; Anm.)

Warum?

Ich wollte damit 10.000 Dollar einsammeln, um die Homepage völlig neu zu gestalten. Jeder, der 25 Dollar investiert, sollte auch ein maßgeschneidertes Notizbuch bekommen. Ich wandte mich an den deutschen Leuchtturm-Verlag, und sie stellten mir sofort 999 Notizbücher zur Verfügung, die ich designte. Kurz gesagt: Innerhalb von acht Stunden, sammelte ich 10.000 Dollar mit Kickstarter ein. Die Notizbücher waren in vier Tagen ausverkauft, und dann wurden die Leute wirklich grantig. Sie wollten nämlich alle die BuJo-Notizbücher haben. Der Verlag und ich entschieden uns deshalb dazu, sie in Massenproduktion herzustellen. So begann Bullet Journal ein Geschäftsmodell zu werden. Meinen Job als Digital Designer habe ich damals dennoch nicht aufgegeben, denn ich arbeitete für eine internationale Designagentur und fühlte mich dort sehr wohl. Erst 2017 beschloss ich, mich ganz dem Bullet Journal zu widmen.

Wieso?

Damals trat ein großer Verlag an mich heran. Er wollte, dass ich ein Buch über meine Methode schreibe. Damit war ich nun über ein Jahr lang beschäftigt.

Warum ist ein Konzept rund um ein leeres Notizbuch so ein Erfolg? Wissen Sie das?

Wir sind heutzutage so abgelenkt von der digitalen Außenwelt, dass wir gar nicht mehr mit uns selbst verbunden sind. Wir suchen nicht selbst nach Antworten, sondern warten, dass sie uns irgendjemand anders gibt. Denken Sie an den Onlinedienst Instagram: Täglich wird uns dort gezeigt, was es heißt, erfolgreich, mächtig und schön zu sein. Ich finde das sehr gefährlich, denn all das hat überhaupt nichts mehr mit uns selbst zu tun. Wir erledigen oft Tausende Dinge am Tag und sind trotzdem nicht zufrieden. Warum? Weil wir uns mit Sachen beschäftigen, die für uns gar nicht wichtig sind. Wenn die Menschen das Journal aufschlagen, gehen sie offline und versuchen herauszufinden, was für sie zählt und was nicht. Wenn man das regelmäßig macht, bemerkt man erst, wie viel von dem, was wir tun, unwichtig ist. Das ist befreiend.

Apropos: Mir ist aufgefallen, dass man fürs Bullet Journal schon recht viel Zeit braucht.

Ja, das ist so. Aber Sie nehmen sich nicht Zeit für das Journal. Sie nehmen sich Zeit für sich selbst.

Steckbrief

Ryder Carroll
ist Digital Product Designer. Der 38-Jährige wurde in Wien geboren und wuchs dort als Sohn des Schriftstellers Jonathan Carroll auf, bevor er Wien verließ und wegen des Studiums in die USA ging. Heute lebt er in New York.

2013
lancierte er seine „Bullet-Journal- Methode“ im Internet. Mithilfe eines leeren Hefts und einiger Anleitungen sollen damit Menschen ihre Zeit besser managen und herausfinden, was wichtig für sie ist. Millionen von „BuJos“ bringen mittlerweile auf diese Weise Ordnung in ihr Leben.

Buchtipp

Ende Oktober 2018 kommt Ryder Carrolls Buch „Die Bullet-Journal-Methode. Verstehe deine Vergangenheit, ordne deine Gegenwart, gestalte deine Zukunft“,erschienen im Verlag Rowohlt, in die Buchhandlungen. Es wird in insgesamt 23 Sprachen übersetzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2018)

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