Amanshausers Album: Verirrungschance null

Kulturgut ­Venedigs mal zwei: die Tranquilizer-­Gelbschilder und die Columba livia ­domestica (Stadt­taube).
Kulturgut ­Venedigs mal zwei: die Tranquilizer-­Gelbschilder und die Columba livia ­domestica (Stadt­taube).(c) Martin Amanshauser
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64 - Venedig, Symbol des Tourismus, ist noch immer nicht gesunken. Doch der Zauber schwindet.

Das Anziehende an der Stadt Venedig war für mich, dass sie Respekt einflößte. Sie war autofrei, von ihrer Struktur her ungewohnt, an manchen Stellen unheimlich. Stadtpläne halfen nur ein bisschen. Man konnte sich in ihr verirren und vielleicht erst viel später – unter Umständen nie wieder – zurückfinden. Sie war schlecht beleuchtet. Sie war einfach ein Gebilde aus einer anderen Zeit, eines, das die Vergangenheit hartnäckig gespeichert hielt. Die Massen trabten brav die Hauptverkehrsroute Bahnhof–Rialto–Markusplatz entlang und hüteten sich, die Tranquilizer-Zone der Gelbschilder zu verlassen.

Im 21. Jahrhundert kamen die Mobiltelefone auf, die sich als exakter Stadtplan missbrauchen lassen. Nun konnte jeder die engen Gässchen begehen, die ins Nichts oder ganz woandershin führten. Leute hielten einfach das Gerät mit Google Maps vor ihre Bäuche, wie eine Wünschelrute, und folgten ihm – Verirrungschance null. Für Venedig bedeutete das, dass sich die touristische Verschubmasse nun tief in die Labyrinthe wagte. Der Zauber des Abseitigen verblasst inzwischen, da überall diese vom Mobilgerät ferngesteuerten Zombies herumtappen.

Zudem kotzen die Kreuzfahrtschiffe, die irre Wassermengen bewegen und damit das Ökosystem Lagune an den Rand des Kollaps bringen, täglich Tausende zusätzliche Menschen aus. Diese am Schiff Vollverpflegten tragen zur schleichenden Zerstörung der Geschäftsstruktur bei. Viele alte Läden schließen, weil neue mit Souvenirramsch und Schmuckmüll nachdrängen, produziert in China, wie ja auch die Glasbläserei der Insel Murano längst auf das chinesische Festland übersiedelt ist. Jedes Jahr wird geschrieben, dass „die großen Schiffe endlich verboten“ werden oder worden sind, immer noch kreuzen sie vor dem Markusplatz herum. (Inzwischen halt keine mehr über 96.000 Bruttoregistertonnen.) Es ist wie bei Gleichberechtigungsthemen, zum Beispiel bei der Frage, ob Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten sollen. Alle, die man anspricht, sind ja dafür. Eine Selbstverständlichkeit. Doch nie geschieht es. Im Hintergrund wirken mächtige Kräfte, und sie haben die Fäden in der Hand.

www.amanshauser.at

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