Steine, Schafe und anderes sardisches Erbe

Blick auf die Halbinsel San Giovanni di Sinis und das Meer ringsum.
Blick auf die Halbinsel San Giovanni di Sinis und das Meer ringsum.Imago
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Sardinien bietet Gästen das ganze Jahr über Einblicke ins Leben und die Geschichte der Inselbewohner. Türkisfarbenes Wasser und Sandstrände sind nur die Zugabe.

Schottland? Island? Oder doch Neuseeland? Schafe über Schafe – auf jeden Einwohner kommen angeblich drei der Wolltiere. Dazu der wolkenreiche Himmel und das faszinierende Licht – ein Naturschauspiel der besonderen Art. Kurz vor dem herannahenden Gewitter hat sich der Himmel völlig verfinstert. Vor uns breitet sich ein weites Land aus, das aber kurz vorm Horizont wieder von Bergen begrenzt wird; es sind Weinberge.

Um das Geheimnis zu lüften: Es geht um Sardinien. Die Insel bietet etwas weniger Platz für Massentourismus, daher werden Besucher mit der Aussicht auf Einblicke in das wahre Sardinien, seine Kultur, Land und Leben, gelockt.

Wir stehen auf einem Steinhügel aus der Zeit zwischen Bronze- und Eisenzeit mit Blick in die Ferne, doch der Steinhügel ist nicht einfach nur ein Hügel: Diese Anlage ist die Su Nuraxi di Barumini, die am besten erhaltene Nuraghe in Sardinien und Weltkulturerbe. Einige Teile der aus mehreren Türmen bestehenden Festung gehen sogar auf das Jahr 1478 vor Christus zurück. Lautlos erzählt das große, labyrinthische Dorf mit schmalen Wegen und Häusern mit Hof, Brunnen, Zisternen und Versammlungshütten dem Besucher eine geheimnisvolle, rund 3500 Jahre alte Geschichte.

Tierische Straßenbenutzer

Tiere sind auf Sardinien hochgeschätzte Mitbewohner, scheint es. So darf man sich nicht wundern, wenn man die engen Inlandstraßen, Kurve um Kurve, erklimmt, dankbar, keinem entgegenkommenden Verkehr ausweichen zu müssen – um im letzten Moment doch noch abzubremsen: Seelenruhig führt ein Mann ein Pferd am Strick, und das zweite tänzelt, ohne Halfter, neben, vor oder hinter ihm her. Anderntags ist es eine Schafherde, die, begleitet von einem pflichtgetreuen Hütehund, die gesamte Gegenfahrbahn wohl geordnet in Anspruch nimmt, um das Ziel (die nächste Wiese? Den Bauernhof?) zu erreichen. Hat man so etwas nicht mit eigenen Augen gesehen – man mag es nicht glauben. Bei der Ankunft in Santu Lussurgiu – einem Borgo autentico d'Italia, einem typisch italienischen Dorf – im Hinterland der Provinz Oristano taucht man unvermittelt ein in das sardische Leben, und darum geht es auch: Die Einwohner leben in Einklang mit dem historischen Erbe, und Fremde sollen die kulturelle Identität und Traditionen der Sarden genauso so nah wie möglich kennenlernen. Gedacht sind diese Initiativen nicht nur für Touristen, sondern auch für die heimischen Jugendlichen, die damit verstärkt an ihre Wurzeln erinnert werden sollen. Winzige Gässchen, einem Labyrinth gleich, führen durch Santu Lussurgiu, und ist man nicht mit einem guten Orientierungssinn ausgestattet, kann die Wegfindung deutlich erschwert werden.

Rennen in engen Gassen

Im Karneval findet das Pferderennen Sa Carrela 'e Nanti statt, was im sardischen Dialekt „die Straße nach vorn“ bedeutet. So zeigen die bunt kostümierten und maskierten Reiter wilde Kunststücke auf den Pferden und liefern sich rasante Rennen in den Gässchen, die von Zuschauern gesäumt sind. Kommen die Reiter an, machen die Menschen Platz; sind sie wieder dahin, drängen die Menschen zurück in die Mitte. Für die Rennen wird jedes Jahr sogar extra der Asphalt weggerissen, damit die Pferde auf dem erdigen Boden besser Halt finden.

Nach dem wilden Spektakel kann man es sich in einem Albergo diffuso gemütlich machen. Dieses „verstreute Hotel“ ist eine ganz spezielle Beherbergungsform, die seit den 1970er-Jahren in Italien besteht und den Gast erneut einlädt, am Leben ringsum teilzunehmen: So gibt es zwar ein Haupthaus, in dem die Rezeption, ein Restaurant und ein paar Zimmer zu finden sind, ebenso werden Mahlzeiten dort serviert. Es kann aber leicht passieren, dass man erst einmal das Haus durchqueren, Stiegen erklimmen und eine Straße kreuzen muss, um sein Zimmer in einem etwas entfernt liegenden separaten Gebäude zu erreichen. Ein spannendes Konzept, in dem einfach ein Hotel um bestehende umgebaute Objekte erweitert wird – anstatt durch einen neu errichteten Gebäudekomplex.

Im Nachbarhaus passiert man sodann die Eingangshalle und findet sich nicht im Wohnzimmer wieder – sondern in einem kleinen Keller, wo Köstlichkeiten vom Himmel kommen, mag man meinen, wenn man nach oben blickt: Da baumeln tatsächlich Pecorino-Laibe der kleinen Käserei. Nur einige Meter weiter sitzt in einem Raum mit zur Gasse geöffneter Tür ein Mann hinter einer Nähmaschine und fertigt Lederstiefel an. Auf 160 Euro beläuft sich ein Paar, das in etwa 18 Stunden Arbeitszeit angefertigt wird. Vor allem Schäfer kaufen die Stiefel gern, deren Sohlen, sobald sie abgetragen sind, rasch erneuert werden können.

Auf Sardinien findet sich eine ganz eigene Art von Gesang, die zum immateriellen Unesco-Kulturerbe gehört: die traditionelle polyfone Vokalmusik des „Canto a Cuncordu“. Sie stellt eine der ältesten Gesangsformen im Mittelmeerraum dar und wird fast nur von Männerchören vierstimmig gesungen. Die aus Schilf gefertigte Launeddas-Flöte ist ebenso landestypisch: Nur wenige Sarden vermögen es noch, diese herzustellen und auf ihr zu spielen.

Wer genug musikalische Eindrücke gesammelt hat, kann sich sportlich betätigen. Ein Ausflug per Mountainbike über die Halbinsel San Giovanni di Sinis bringt einen – so man die Auffahrt nicht verweigert und auf den kleinen Bummelzug umsteigt – zur Spitze des Hügels von San Giovanni. Die Strapazen werden belohnt: Als Preis winkt ein atemberaubender Blick auf die Halbinsel hinunter, mit dem Meer, tiefblau, links und rechts vom schmalen Festland.

Am Fuße des Hügels sind die Reste der phönizischen Stätten von Tharros zu entdecken. Im Mittelalter fackelten die Bewohner des Orts nicht lang und bauten einfach ihre Häuser nah am Meer Stück für Stück ab, um sie im Landesinneren wiederaufzubauen. So waren sie vor dem Meer, aber auch vor einfallenden Piraten sicher.

Zentrum der Bergbauindustrie

Nahe Guspini erreicht man nach kurzer kurvig-bergiger Autofahrt die 1991 stillgelegten Eisenerzminen von Montevecchio im Unesco-Geo-Mineralpark, das Zentrum der ehemaligen Bergbauindustrie, wo auch die italienische Gewerkschaft ihren Ursprung hat. Ab 1848 wurden hier jahrzehntelang Blei, Silber und Zink abgebaut. Beeindruckend ist die Größe des Werks, aber fast noch beeindruckender erscheint die Tatsache, dass es vor Ort ein reges Dorfleben gab. So fuhren Händler aus den umliegenden Orten wöchentlich auf den Berg, um den Arbeitern ihre Waren anzubieten – wofür aber nicht die italienische Lira verwendet wurde, sondern eine eigens für die Bergleute ausgegebene Währung. Die Villa des Minenbesitzers, schräg gegenüber vom Arbeiterspital, wirkt auf den ersten Blick imposant und anheimelnd. Bei ihrem Durchschreiten beschleicht einen allerdings ein eher ungutes Gefühl, das noch einmal verstärkt wird, als Hugo, ein ehemaliger Arbeiter, der über seine Jahre vor Ort erzählt, auf ein Fenster in der undurchsichtigen Fensterfront hinweist. Dieses kleine, unscheinbare Fenster stellte über Jahrzehnte die einzige Verbindung zwischen Arbeiterschaft und Arbeitgebern dar. So standen monatlich alle Bergleute geduldig in der Schlange an, um ihren Lohn abzuholen – einen Blick auf das Innere des Anwesens konnten sie dabei nie erhaschen. Erst nach Schließung der Mine durften die Männer erstmals das Haus betreten. Die Tatsache, plötzlich im Allerheiligsten stehen zu dürfen, war „schlicht sensationell – Platz für Unmut gab es gar nicht“, verrät Hugo.

Viele junge Menschen verlassen Sardinien nach ihrer Ausbildung, um auf dem italienischen Festland oder in anderen Ländern berufliche Erfahrungen zu sammeln – und mit diesen im Gepäck wieder in die Heimat zurückzukehren. Traditionelles vermischen sie dann mit Erlerntem. So trifft man regelmäßig auf Köche, die die sardische Küche ganz neu interpretieren und damit den Daheimgebliebenen – Alteingesessenen wie Jungen – zeigen, dass Tradition nicht nur mit Begriffen wie alt, schäbig und langweilig assoziiert werden sollte.

Die Menschen auf der Insel misstrauen dem Meer, das sie umgibt – genauso wie Auswärtigen. Ein Sprichwort lautet: „Alles Schlechte kommt vom Meer.“ Wir nördlichen Festlandmenschen freuen uns aber dennoch, bis Ende Oktober in diesem azurblauen Gewässer an feinen Sandstränden planschen zu können . . .

INDIVIDUALTOUR

Borgo autentico. Santu Lussurgiu: www.santulussurgiucomunitaospitale.it

Albergo diffuso. Antica Dimora del Gruccione: www.anticadimora.com

Miniera Montevecchio, Guspini. www.minieradimontevecchio.it, www.parcogeominerario.eu

Nuraghe Su Nuraxi di Barumini. www.sardegnaturismo.it/de/entdecken/su-nuraxi

Essen in Cagliari. Cucina.eat: www.shopcucina.it, Josto: www.facebook.com/josto.restaurant

Essen nahe Oristano. Somu: www.somu.it

Compliance. Die Reise erfolgte auf Einladung der Handelskammern von Cagliari und Oristano.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2018)

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