Für seinen bildschönen Schwarz-Weiß-Film "Roma", in dem er das Mexico City seiner Kindheit rekonstruiert, bekommt Alfonso Cuarón den Goldenen Löwen. Die 75. Filmfestspiele boten ein solides und stimmiges Programm, das sich den Verwerfungen der Gegenwart widmete.
Überrascht war niemand, als Alfonso Cuarón sich Samstagabend auf die Bühne des Palazzo del Cinema begab, um den Hauptpreis der 75. Filmfestspiele von Venedig entgegenzunehmen – obwohl es das zweite Mal in Folge war, dass der Goldene Löwe an einen Regisseur aus Mexiko ging. Verliehen wurde er von einer Jury unter der Leitung des letztjährigen Siegers Guillermo del Toro. Bekanntermaßen ist dieser ein guter Freund Cuaróns, die beiden betreiben sogar eine Produktionsfirma zusammen. Doch Nepotismusvorwürfe werden aller Voraussicht nach ausbleiben – die künstlerischen Qualitäten von Cuaróns Gewinnerfilm “Roma” sind kaum zu bestreiten.
Der 56-jährige Filmemacher, der zuletzt 2013 mit dem Weltraum-Blockbuster „Gravity“ Venedig eröffnete sowie an den Kassen und bei der Kritik reüssierte, begibt sich darin auf die Spuren seiner Kindheit und rekonstruiert in bildschönem Schwarz-Weiß das Mexico City der Siebzigerjahre, wo Klasse und ethnische Zugehörigkeit untrennbar miteinander verflochten waren. Er wählt dafür die Perspektive seiner einstigen Mixteca-Kindermädchen und entblättert mit eindrucksvollem Sinn fürs Detail die heimlichen Dramen, für die seine bürgerliche Familie damals kein Auge hatte.
Dank an Netflix
Der Film fühlt sich an wie das lebende Panorama einer anderen Zeit, die Schönheit des Gewöhnlichen steht im Kontrast zur Gewalt historischer Umwälzungen, die oft wie nebenher im Hintergrund des Breitwandbildes vonstattengehen. In seiner dreisprachigen Preisrede bedankte Cuarón sich bei den Frauen, die ihn zu dieser Arbeit inspirierten – und bei Netflix. Der Triumph „Romas“ ist auch einer für den Streaming-Giganten, der sich immer mehr als ernst zu nehmender Förderer namhafter Filmkünstler verdient macht. Aufgrund seiner bisherigen Weigerung, den meisten seiner Produktionen einen breiteren Kinostart zu ermöglichen, gerät er aber auch immer wieder in die Kritik. Bleibt abzuwarten, ob er bei „Roma“ eine Ausnahme macht.
Der Große Preis der Jury ging an den Griechen Yorgos Lanthimos für seine historische Unsittenkomödie „The Favorite“ mit Olivia Colman, die als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. Zur Freude des Publikums sprach sie ein paar italienische Sätze. Jurymitglied Christoph Waltz überreichte dem Kollegen Willem Dafoe einen Schauspielpreis für seine Performance als Vincent van Gogh in Julian Schnabels „At Eternity's Gate“
Die Sieger
Goldener Löwe für den besten Film: „Roma“ von Alfonso Cuarón
Silberner Löwe für die beste Regie: Jacques Audiard für „The Sisters Brothers“
Großer Preis der Jury: „The Favourite“ von Giorgos Lanthimos
Beste Schauspielerin: Olivia Colman für „The Favourite“
Bester Schauspieler: Willem Dafoe für „At Eternity's Gate“
Bestes Drehbuch: „The Ballad of Buster Scruggs“ von Ethan und Joel Coen
Mastroianni-Preis für den besten jungen Schauspieler: Baykali Ganambarr für „The Nightingale“
Spezialpreis der Jury: „The Nightingale“ von Jennifer Kent
Orizzonti-Preis für den besten Film: „Kraben Rahu“ („Manta Ray“) von Phuttiphong Aroonpheng
Orizzonti-Preis für die beste Regie: Emir Baighasin für „Ozen“ („The River“)
Spezialpreis der Orizzonti-Jury: „Anons“ von Mahmut Fazil Coşkun
Rückblick: Venedig tanzt auf dem Vulkan
Wer bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig nach einem Querschnitt ihres Themenspektrums suchte, musste bis zum Ende des Wettbewerbs warten. Als einer der letzten Beiträge lief hier ein Film namens „Capri-Revolution“. Er entfaltet die Vergangenheit der berühmten Insel in Form eines Diskursdramas: Am Vorabend des Ersten Weltkriegs treffen hier (in einer freien Interpretation historischer Begebenheiten) Künstler, Freidenker und einfache Leute zusammen, um die Utopie zu proben. Im Ambiente zwischen „Zauberberg“ und Hippie-Kommune debattieren Kommunisten und Proto-Faschisten, Männer der Wissenschaft und Ziegenhirtinnen über das (Gefahren-)Potenzial der Menschheit – während abseits des Eilands alles auf der Kippe steht.
Ganz so spannend ging es beim Festival freilich nicht zu. In puncto Thomas Mann lag der Gedanke an den „Tod in Venedig“ wieder mal näher – auch aufgrund der auslaugenden Überlänge etlicher Wettbewerbsfilme. „Capri-Revolution“ bietet dennoch einen guten Überblick dessen, was im Fokus der 75. Festivalausgabe stand: die Angst vor politischen (und anderweitigen) Katastrophen, der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen, das Schwanken zwischen düsteren und hoffnungsvollen Zukunftsentwürfen.
Erstaunlich, wie viele Kreuz- und Querverbindungen das Programm heuer bereithielt. Wem die Darstellung des Sonnenanbeter-Freikörperkults in „Capri-Revolution“ zu verklärt vorkam, der konnte sich in der Nebenschiene „Orizzonti“ bei „Charlie Says“ Antithesen abholen: Die Kanadierin Mary Harron zeichnet darin ein schonungsloses Porträt der giftigen Blumenkinderstube rund um Killerhippie Charles Manson. Im Unterschied zum Antihelden aus Harrons bekanntester Arbeit „American Psycho“ fehlt der Titelfigur jegliche Faszinationskraft: Manson (verkörpert vom britischen Serien-Star Matt Smith) erscheint als jämmerlicher, passiv-aggressiver Ego-Tropf, der seine Jüngerinnen mit hohlen 68er-Floskeln hörig hält.
Auch Wettbewerbsbeiträge nahmen das, was man heute „toxische Männlichkeit“ nennt, unter die Lupe. „The Sisters Brothers“ vom Franzosen Jacques Audiard schickt zwei Kopfgeldjäger (Joaquin Phoenix und John C. Reilly) auf therapeutische Western-Odyssee. Statt der angedeuteten Gewalteskalation wartet zum Schluss Hotel Mama auf die Rabauken. Jennifer Kents „The Nightingale“ attackiert Machismus frontal: Die Insassin einer australischen Strafkolonie sucht blutige Rache an ihren Vergewaltigern. Der Film sorgte für einen kleinen Skandal – doch nicht wegen des Inhalts: Während der Pressevorführung schockierte ein italienischer Kritiker mit einem sexistischen Schimpfanfall, worauf ihm die Akkreditierung entzogen wurde. Kent, die einzige Regisseurin im heurigen Wettbewerb, reagierte besonnen: „Ich finde es enorm wichtig, mit Liebe und Mitgefühl auf Ignoranz zu antworten. Es gibt keine andere Option.“
Wuchtiger Breivik-Thriller
Karitas im Angesicht bodenloser Menschenverachtung: Davon handelt auch „22 July“ von Paul Greengrass. Der auf „wahre Geschichten“ abonnierte Thriller-Spezialist widmet sich darin den rechtsextremen Anschlägen in Norwegen 2011. Im Unterschied zum umstrittenen Berlinale-Starter „Utøya 22. Juli“, der das Attentat aus der Sicht eines Opfers nachstellte, setzt Greengrass Anders Breivik ins Bild, gibt dem Verbrechen aber nur eine halbe Stunde Leinwandzeit. Der Rest des Films parallelisiert die Bemühungen des Täters, seine Gerichtsverhandlung als Propagandapult zu nutzen, mit der Traumabewältigung eines Überlebenden. Langsam bringt die Solidarität der Hinterbliebenen Breiviks Superheldenbösewicht-Fassade zum Einsturz. Die Verbindung emotionalisierter Hollywood-Dramaturgie mit der Erörterung dringlicher ethischer, juristischer und politischer Fragen funktioniert überraschend gut – und entwickelt die Erbaulichkeitswucht eines gelungenen „Star Wars“-Finales.
Anderswo machte sich das Gefühl einer Wahrnehmungskluft zwischen Filmfiguren und zeithistorischen Entwicklungen breit. Im ungarischen k.u.k. Krimi „Napszállta“ äußerte es sich über die Unschärfe des Bildhintergrunds. In der nur scheinbar locker-flockigen französischen Komödie „Doubles vies“ über die Unfähigkeit von Buchautoren und ihren Lesern, mit den Realitätsverschiebungen der digitalisierten Gegenwart umzugehen. In der bösen Pop-Satire „Vox Lux“ über die Engführung der Ruhmessucht von Superstars und Terroristen. Nur in „What You Gonna Do When The World's On Fire“, einem Doku-Drama über schwarze Communities in den US-Südstaaten, schien der Draht zwischen den Protagonisten und ihrer harschen Lebenswirklichkeit schmerzlich direkt.
Das Festival
Die 75. Internationalen Filmfestspiele von Venedig gingen am Samstag mit der Verleihung des Goldenen Löwen zu Ende.
Ehrenpreise für ihr Lebenswerk bekamen der kanadische Filmregisseur David Cronenberg und die britische Schauspielerin Vanessa Redgrave. Im offiziellen Wettbewerb traten 21 Filme an. In der Jury saßen u. a. Christoph Waltz, Naomi Watts, Trine Dyrholm und als Jurypräsident Guillermo del Toro, der im Vorjahr mit „Shape of Water“ nicht nur den Goldenen Löwen, sondern später auch den Oscar gewann.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2018)