Der türkische Präsident besuchte den russischen Staatschef in Sotschi, um eine Großoffensive in Idlib abzuwenden. Er offerierte einen gemeinsamen Kampf gegen Extremisten.
Istanbul/Sotschi. Die Türkei ist bereit, in der syrischen Provinz Idlib zusammen mit Russland gegen Extremisten vorzugehen. „Lasst uns alles gegen Terrorgruppen unter den Rebellen unternehmen“, sagte Recep Tayyip Erdoğan vor einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Montag im russischen Schwarzmeer-Badeort Sotschi. Mit dem Angebot will der türkische Staatschef die geplante Großoffensive auf Idlib verhindern. Experten räumen dem Vorstoß aber wenig Erfolgschancen ein. Aus Idlib selbst wurde erneut der Beschuss von Stützpunkten der Rebellen gemeldet.
Erdoğan befürchtet, dass die meisten der rund drei Millionen Zivilisten in Idlib im Fall eine Großoffensive der syrischen Regierungstruppen und der russischen Luftwaffe in die Türkei fliehen werden. Zudem würde eine Rückeroberung der Provinz durch Putins Schützling, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, den türkischen Einfluss im Norden Syriens gefährden.
Mit dem Vorschlag eines gemeinsamen Vorgehens zielt Erdoğan vor allem auf die Dschihadisten-Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die große Teile von Idlib und auch wichtige Grenzübergänge von der Provinz in die Türkei beherrscht. Die Türkei hat die HTS erst vor Kurzem als Terrororganisation anerkannt. Vorher hatte die türkische Armee ihre Bewegungen in Idlib mit der HTS koordiniert.
Türkische Truppen verstärkt
Mehrere Zehntausend pro-türkische Rebellen würden unter Erdoğans Plan nicht angegriffen. Ankara will die Präsenz dieser Gruppen in Idlib sichern, um sich eine gute Ausgangsposition für die Verhandlungen über die Zukunft von Syrien zu sichern. Die Türkei hält zudem zwei syrische Gebiete nördlich und nordöstlich von Idlib besetzt. Diese könnten zu Zufluchtsorten von Rebellen aus Idlib werden.
Ihr Verhandlungsangebot an Russland begleitet die Türkei mit militärischen Vorkehrungen für ihre eigenen Soldaten und verbündete Rebellengruppen in Idlib: Kurz vor seinem Gespräch mit Putin am Montag – seine zweite Begegnung mit dem russischen Staatschef innerhalb von zehn Tagen – bestätigte Erdoğan eine Verstärkung der türkischen Truppen in Idlib.
Die insgesamt zwölf Beobachtungsposten in der Provinz haben laut Medienberichten unter anderem Panzer und Luftabwehrgeschütze erhalten. Die Türkei hatte die Posten mit Erlaubnis von Russland in Idlib eingerichtet.
Putins Reaktion auf die türkischen Vorschläge war zunächst nicht bekannt – die Gespräche zwischen den türkischen und russischen Delegationen in Sotschi dauerten am Montagabend noch an. Putin hatte vor seinem Treffen mit Erdoğan von einigen schwierigen Fragen gesprochen, die behandelt werden müssten.
Russland hat bei den Verhandlungen über Idlib langfristige strategische Interessen im Blick. Putin will am Ziel einer Eroberung der Provinz und damit einer Sicherung der Herrschaft von Assad festhalten, gleichzeitig aber die Türkei weiter aus ihrer Westbindung herauslösen.
Erdoğan hatte den Westen unter anderem mit dem Plan verärgert, ein russisches Raketenabwehrsystem zu kaufen. Mit keinem anderen ausländischen Staatschef trifft sich der türkische Präsident so häufig wie mit Putin: Das Treffen in Sotschi war das 13. Treffen der beiden Politiker in zwei Jahren.
Schlechte Beziehungen zu USA
Um die russisch-türkische Zusammenarbeit zu sichern, müssten die Meinungsverschiedenheiten zwischen Moskau und Ankara wegen Idlib auf ein Minimum begrenzt werden, wie Kerim Has, Experte für die russisch-türkischen Beziehungen, der „Presse“ sagte.
Laut Has rechnet der Kreml damit, dass sich die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA im Herbst weiter verschlechtern werden: Im November treten amerikanische Sanktionen gegen die Ölindustrie des Iran in Kraft, doch die Türkei will dennoch weiter bei den Iranern einkaufen. In dieser Lage werde sich Erdoğan keinen neuen Grundsatzstreit mit Russland neben der Krise mit den USA leisten können, sagt Has: Ankara habe dann keine andere Wahl, als den Angriff auf Idlib zu tolerieren. Er rechnet deshalb mit einem Beginn der Offensive Ende Oktober oder Anfang November.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2018)