Zwei Regierungskrisen, eine öffentliche Entschuldigung – und jetzt auch noch das: Der enge Vertraute der Kanzlerin, Unionsfraktionsvorsitzender Kauder, wird überraschend abgewählt.
Berlin. Ab wann kann man von historischen Zeiten sprechen? Noch wäre das vielleicht etwas dramatisch. Aber bei CDU und CSU gehen in diesen Tagen zumindest höchst ungewöhnliche Dinge vor. Da wäre nicht nur die andauernde Regierungskrise, die die Große Koalition noch immer lähmt. Der Kontakt, den die Parteizentrale plötzlich in mehreren E-Mails zur ihrer Basis sucht. Oder die demütige Entschuldigung, die Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach dem Streit über Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen gegeben hat.
Am späten Dienstagnachmittag dann auch noch das: Der langjährige Fraktionsvorsitzende von CDU und CSU im deutschen Bundestag, Volker Kauder, wurde nach 13 Jahren abgewählt. Nur 112 Abgeordnete unterstützten ihn – sein Gegenkandidat Ralph Brinkhaus erhielt mit 125 Stimmen die Mehrheit. Damit hatte im politischen Berlin kaum jemand gerechnet. Am wenigsten Kanzlerin Angela Merkel.
Allein die Tatsache, dass sich der 69-jährige Kauder einer Kampfabstimmung gegen den 50-jährigen Brinkhaus aus Ostwestfalen stellen musste, galt schon als kleine Sensation. In der Geschichte der Union fand eine solche Kampfabstimmung überhaupt erst zum zweiten Mal statt – die Premiere ist bereits 45 Jahre her. Die Abgeordneten wählten am späten Dienstagnachmittag also nicht, wie gewöhnlich, gemeinsam in einem Raum im Bundestag. Sondern gaben ihre Stimme in einer von acht Wahlkabinen im Nebenzimmer ab. Das Ergebnis könnte nun weitreichende Folgen über den Bundestag hinaus haben.
Brinkhaus ist kein Netzwerker
„Aufständchen“ titelte der „Spiegel“ noch Anfang September, als Brinkhaus seine Pläne öffentlich machte. Tatsächlich räumte dem Steuerberater anfangs niemand große Chancen für einen Sieg ein. Er galt als ausgewiesener Finanzexperte, aber nicht als Netzwerker. Dass er Merkel als eine der ersten Personen offiziell in seine Pläne einweihte, zeugte zwar von Fairness – aber weniger von Machtgeschick. Die Kanzlerin tat das Erwartbare: Sie sicherte Kauder ihre volle Unterstützung zu – wie es auch CSU-Chef Horst Seehofer getan hatte. Am Dienstag warb sie vor der Wahl auch für den langjährigen Fraktionschef. Die politische Lage sei derzeit zu instabil für einen Wechsel in der Union im Bundestag.
Die Situation ist vor allem für Merkel instabil. Ihr Fundament bröckelt, Kauder war immerhin eine der wichtigsten Stützen der Kanzlerin im Parlament. Ihre Verbindung zu den Abgeordneten, ihr enger Vertrauter. Einen Tag vor Merkel kam er an die Macht, nur eben an anderer Stelle. Und genauso wie die Bundeskanzlerin wollte er vor dem Ende seiner Karriere noch einmal die Führung übernehmen. Doch seine Abgeordneten entschieden sich anders.
Bei der Abstimmung ging es also nicht nur um den Fraktionsvorsitz in der Union. Sondern um Merkels Autorität. Brinkhaus selbst betonte zwar mehrfach, seine Kandidatur sei explizit kein Protest gegen die Bundeskanzlerin: "Eins ist klar: Die Fraktion steht ganz fest hinter Angela Merkel", sagte er nach seiner Wahl. Er freue sich auf eine enge und vertrauensvolle Kooperation mit Merkel. "Da passt zwischen uns kein Blatt Papier." Die Zusammenarbeit werde normal fortgeführt, wie es mit seinem Vorgänger Volker Kauder (CDU) auch der Fall gewesen sei.
Brinkmann wolle das Selbstbewusstsein der Parlamentarier stärken und sich von der Regierung abkoppeln. Er wolle „frischen Wind“ in das Parlament bringen. Bei seinem ersten Auftritt direkt nach der Wahl lobte Brinkhaus auch Kauders Leistung und zollte ihm „ganz, ganz großen Respekt“. Es habe minutenlangen Applaus für ihn gegeben. Laut „Welt“ wollte Merkel bei der ersten Stellungnahme ihres neuen Fraktionsvorsitzenden allerdings nicht gemeinsam mit ihm vor die Fernsehkameras treten. Erst später sagte sie dann: "Das
ist eine Stunde der Demokratie, in der gibt es auch Niederlagen, und
da gibt es auch nichts zu beschönigen."
125 Denkzettel für Merkel
Die Bundeskanzlerin hatte, wenn man so will, 125 Denkzettel bekommen. Die Abwahl Kauders war ein Protest gegen ihre Regierungsarbeit. Eine Warnung in Richtung Kanzleramt, dass es so nicht weitergehen könne. Mit dem ständigen Streit, der Zerrissenheit der Union zwischen den Parteilinien von CDU und CSU. Möglicherweise auch ein Zeichen, dass über das Ende der innenpolitischen Karriere endgültig nachgedacht werden sollte. Nicht nur bei Kauder, sondern eben auch bei Merkel.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2018)