Im Baltikum machte Franziskus die zahlreichen Skandale für die Abwendung vieler Junger von der Kirche verantwortlich.
Warschau/Tallinn. Vor seiner Abreise nach Rom und dem Schlussgottesdienst auf dem Platz der Freiheit in Tallinn hat Papst Franziskus doch noch zum Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche Stellung genommen. Es sei einer der Hauptgründe, warum sich viele junge Leute von der Kirche abwendeten, sagte der Pontifex bei einem ökumenischen Treffen in der estnischen Hauptstadt am Dienstag. „Manche wollen ausdrücklich in Ruhe gelassen werden, denn sie empfinden die Präsenz der Kirche als lästig, ja unangenehm. Sie sind empört über die Skandale sexueller und finanzieller Art, sie vermissen eine klare Verurteilung.“
Währenddessen hat in Fulda Reinhard Marx, Chef der katholischen Bischofskonferenz in Deutschland, die Missbrauchsopfer der Kirche in aller Form um Verzeihung gebeten. „Allzulange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet und vertuscht worden. Für dieses Versagen und allen Schmerz bitte ich um Entschuldigung“, sagte der Münchner Kardinal bei der Vorstellung einer Studie, die den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Kleriker in den vergangenen Jahrzehnten dokumentiert.
Kardinal Marx: „Schäme mich“
Marx fügte an: „Ich schäme mich für das Vertrauen, das zerstört wurde, die Verbrechen, die Menschen durch Amtspersonen der Kirche angetan wurden; ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist, und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben.“ Das gelte auch für ihn. Man habe Opfern nicht zugehört. „Viele Menschen glauben uns nicht mehr. Und ich habe dafür Verständnis.“
SPD-Justizministerin Katarina Barley sagte: „Die Bistümer und Orden müssen Verantwortung für jahrzehntelanges Vertuschen und Verleugnen übernehmen.“ Die Kirche müsse jede Tat anzeigen. Wie massiv Vertrauen, Abhängigkeiten und Macht missbraucht worden seien, sei unerträglich.
„Christus Jesus, unsere Hoffnung“, lautete indes das Motto des Papstbesuchs im Baltikum. Dieses ist die am spätesten christianisierte Region Europas, und die Einwohner Litauens, Lettlands und Estlands sind aufgrund ihrer Erfahrung mit dem sowjetischen Zwangssystem gegenüber dem Konsum viel unkritischer als der oft kapitalismuskritische Franziskus.
Da die Reise anlässlich des 100. Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung der drei Baltenstaaten nach dem Ersten Weltkrieg geplant wurde, nahmen Besuche in den Freiheitsmuseen der Esten, Letten und Litauer und andere Gesten viel Raum ein. Für den Besuch in Litauen wurde das Programm geändert, da der Vatikan übersehen hatte, dass just am Gedenktag des Holocausts und der Ghettoauflösung von Vilnius die größte baltische Freiluftmesse angesetzt war.
Treffen der Konfessionen
Zur Messe in Kaunas, Litauens Hauptstadt in der Zwischenkriegszeit, strömten rund 100.000 Gläubige, darunter viele Pilger aus Polen. In Vilnius schaltete er am Ende seiner zweitägigen Litauen-Visite extra noch ein Gebet auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos ein. Während seines Aufenthalts in dem großteils katholischen Land sprach Franziskus immer wieder von Toleranz, Gastfreundschaft, Respekt und Solidarität. Diese Werte hätten es Litauen ermöglicht, die deutsche und sowjetische Besatzung zu überstehen, sagte Franziskus. Die katholische Kirche Litauens erlebt freilich einen starken Rückgang der Messbesucher.
Auch in Lettland schien Franziskus indes höchstens in seinem Gewissen von den jüngsten Skandalen seiner Kirche geplagt. Er folgte seiner Mission zur Verbreitung des volksnahen Glaubens. Im Marienwallfahrtsort Anglona an der russischen Grenze kamen Zehntausende zu einer Open-Air-Messe. Die Katholiken sind im mehrheitlich lutherischen Lettland eine Minderheit; rund 17 Prozent der Bewohner sind katholisch. Franziskus lobte die ökumenische Zusammenarbeit aller christlichen Kirchen und traf sich im berühmten Rigaer Dom auch mit den Kirchenoberen der Orthodoxen und Protestanten.
In Anglona warnte der Papst neuerlich vor Fremdenfeindlichkeit und Populismus. „Es leben Gesinnungen auf, die Misstrauen gegenüber den anderen säen und mithilfe von Statistiken belegen wollen, dass es größeren Wohlstand und mehr Sicherheit gäbe, wenn wir allein wären“, sagte Franziskus. Christen müssten dagegen auf eine „universale Geschwisterlichkeit“ setzen.
Seine katholische Kirche forderte der Argentinier auf, zu zeigen, „dass wir bereit sind, den Armen einen besonderen Platz einzuräumen, den Gefallenen aufzuhelfen und die anderen so anzunehmen, wie sie zu uns kommen und vor uns stehen“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2018)