Wegen der Finanzkrise will Ankara das Verhältnis zu Berlin normalisieren. Doch Kritiker Erdoğans in der Türkei glauben nicht, dass der türkische Präsident bei seinem Berlin-Besuch in wichtigen Fragen nachgeben wird.
Istanbul. Es ist ein Versuch, das Verhältnis mit Berlin wieder einigermaßen zu kitten. Heute, Donnerstag, trifft der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu einem dreitätigen Staatsbesuch in Deutschland ein. Die Visite ist umstritten. In Berlin sind nach Polizeiangaben für Donnerstag und Freitag bisher zehn Kundgebungen wegen Erdoğans Besuch angemeldet. Allein bei einer Demonstration am Freitagnachmittag unter dem Motto „Erdoğan not welcome“ erwarten die Initiatoren zehntausend Teilnehmer.
Im Vorfeld des Besuchs wurde in der Türkei der Ruf nach Rückkehr zu Demokratie und rechtsstaatlichen Verhältnissen lauter. Das Land brauche eine unabhängige Justiz, sagte Bülent Eczacbıaşı, einer der prominentesten Wirtschaftskapitäne der Türkei, der Zeitung „Hürriyet“. Bisher zeigt Ankara jedoch kein Signal zu einem Kurswechsel. Deshalb müsse Berlin Erdoğan klarmachen, dass es ohne Rückbesinnung auf demokratische Grundsätze keine Normalisierung der Beziehungen geben werde, fordert Parlamentsvizepräsident und Oppositionspolitiker Mithat Sancar im Gespräch mit der „Presse“. Sancar hat nur wenig Hoffnung, dass Berlin den nötigen Druck machen wird.
Hoffen auf Beistand
Die schwere Finanzkrise, die seit Anfang des Jahres den Kurs der Türkischen Lira gegenüber dem Dollar und dem Euro um 40 Prozent einbrechen ließ, ist einer der Gründe dafür, dass Erdoğan nach einer längeren Eiszeit wieder die Nähe zu Deutschland sucht: Seine Regierung hofft auf wirtschaftlichen Beistand. Auch wenn es bisher kein Hilfsprogramm für Ankara gibt, betont die Bundesregierung, Deutschland habe ein Interesse daran, dass die Türkei wirtschaftlich nicht „abschmiert“.
Ganz so einfach dürfe es für Ankara nicht sein, sagt Sancar der „Presse“. Er unterstütze zwar eine Annäherung zwischen der Türkei und Deutschland, betonte der Politiker der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP. Aber: „Ohne Demokratie kann die Türkei keine Stabilität erreichen.“ Das müsse die Botschaft der Bundesregierung sein. „Es darf und kann nicht nur um die beiderseitigen wirtschaftlichen Interessen gehen.“
Das betrifft laut Sancar auch die von Berlin immer wieder kritisierten Festnahmen von Bundesbürgern in der Türkei. Selbst wenn plötzlich alle Deutschen freikämen, bedeute das nicht, dass die türkische Justiz über Nacht unabhängig geworden sei: „Es herrscht Willkür, nicht Rechtsstaatlichkeit.“
Nicht nur Sancar sieht das so. Die Ratingagentur Moody's etwa beklagt eine „fortschreitende Schwächung der Institutionen der Türkei und ein zunehmend unberechenbares politisches Umfeld“ durch die Politik der Regierung.
Die Alarmzeichen in der Wirtschaft nehmen zu. Mehrere bekannte Einzelhandelsfirmen haben Gläubigerschutz beantragt, Bauunternehmen haben mit Entlassungen begonnen. Handwerker klagen über ausbleibende Aufträge und über Kunden, die ihre Rechnungen nicht bezahlen. Selbst Großunternehmen fragen sich, wie sie ihre in den vergangenen Jahren aufgenommenen Dollar-Kredite zurückzahlen sollen. Experten schätzen die Gesamtsumme türkischer Unternehmensschulden auf 220 Milliarden Dollar. Erdoğan gab die Parole aus, die Türkei erlebe keine Wirtschaftskrise, sondern die Folgen hinterhältiger Manipulationen dunkler Kräfte. Und damit werde die Türkei fertig.
Keine strukturellen Reformen
Dass Erdoğan nach Appellen der Bundesregierung seine Politik ändern wird, ist unwahrscheinlich. Verbesserungen in Einzelfällen wie die Entlassung prominenter politischer Häftlinge seien zwar möglich, meint Kristian Brakel, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul zur „Presse“. Strukturelle Reformen seien aber nicht zu erwarten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2018)