Geheimdienst-Oberst als Attentäter?

Margarita Simonjan interviewt im russischen Fernsehen die beiden mutmaßlichen Skripal-Attentäter.
Margarita Simonjan interviewt im russischen Fernsehen die beiden mutmaßlichen Skripal-Attentäter.(c) imago/ITAR-TASS (TASS)
  • Drucken

Online-Plattformen enttarnen angeblichen russischen Touristen Ruslan Boschirow als Agenten Anatolij Tschepiga. Er soll in Salisbury Sergej Skripal vergiftet haben. Moskau dementiert.

Moskau. Als offizielle Stimme des russischen Außenministeriums kommentiert Maria Sacharowa stets wortgewaltig den Fall Skripal. So auch am Donnerstag. „Es gibt keine Beweise“, schrieb sie auf Facebook und sprach von einer „Kampagne“, die von der zentralen Frage ablenken solle: „Was ist in Salisbury passiert?“

Damit bestreitet Moskau weiter jegliche Verantwortung für das Giftattentat von Anfang März und zeigt keinerlei Willen, an der Aufklärung der Causa Skripal mitzuwirken. Dass nach dem zunächst von der britischen Regierung geäußerten, aber nicht näher begründeten Verdacht gegen Russland mittlerweile einige Indizien auf eine tatsächliche Verwicklung Moskaus weisen, ignoriert man weiter geflissentlich.

Am Abend zuvor hatten zwei Online-Rechercheplattformen – das britische Projekt Bellingcat und The Insider Russia – einen der beiden Männer identifiziert, die von den britischen Behörden verdächtigt werden, den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia in Salisbury vergiftet zu haben. Zeitgleich hatte die britische Premierministerin, Theresa May, Russland bei der UN-Generalversammlung in New York angegriffen und beschuldigt, Lügenmärchen zu verbreiten.

Oberst beim GRU

Nach den Recherchen von Bellingcat und The Insider ist einer der beiden Verdächtigen ein 39-jähriger Oberst des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Der Mann, der mit dem Decknamen Ruslan Boschirow nach Großbritannien einreiste, heiße in Wirklichkeit Anatolij Tschepiga. Der 1979 Geborene soll eine Ausbildung in der Militärakademie der Stadt Blagoweschensk im Fernen Osten durchlaufen haben. Im Jahr 2014 sei er mit dem Ehrentitel Held der russischen Föderation ausgezeichnet worden, hieß es in dem Bericht. Der Zeitpunkt der Auszeichnung lasse auf einen Einsatz in der Ostukraine schließen. Zudem sei es „sehr wahrscheinlich“, dass Staatschef Wladimir Putin Tschepiga kenne, weil er in der Regel solche Auszeichnungen persönlich übergebe.

Dass ein solch hochrangiger Offizier für einen Einsatz ins Feld geschickt werde, sei überraschend und impliziere einen Befehl „von höchster Ebene“, hieß es weiter unter Bezugnahme auf einen Geheimdienst-Insider. Die Identität des zweiten Mannes, der unter dem vermuteten Decknamen Alexander Petrow mit seinem Kollegen zweimal nach Salisbury reiste, bleibt unbekannt. Dem Vernehmen nach kennen britische Behörden die wahre Identität des Mannes.

Zu ihrem Vorgehen erläuterten die Rechercheure von Bellingcat und The Insider, dass sie „umgekehrt“ recherchiert und Boschirow/Tschepiga auf Fotografien und in öffentlich verfügbaren Quellen identifiziert hätten.

Kurioser TV-Auftritt

Mit den neuen Erkenntnissen der Online-Rechercheure mehren sich die Zweifel an der Verteidigungsstrategie des Kreml. Nach der Identifikation der Männer und der Veröffentlichung von Fotos aus Überwachungskameras strahlte der russische Staatssender RT ein Interview mit den beiden Gesuchten aus. Im Gespräch mit RT-Chefin Margarita Simonjan stellten sie sich als unbescholtene Besucher dar. Sie hätten sich in London lediglich vergnügen und unbedingt die berühmte Kathedrale in der Kleinstadt Salisbury besichtigen wollen. Der Auftritt der beiden Männer im Wollpullover wirkte einstudiert. Merkwürdig ist die Szene, in der der angebliche Urlauber Boschilow über Details der Kirche referiert: „Sie ist für ihren 123 Meter hohen Turm und ihr Glockenspiel bekannt, das älteste der Welt, das bis heute funktioniert.“

Das Gespräch sorgte weltweit für Spott. Doch in Russland erlangte das Interview Kultstatus. Ob die Aussagen wahr sind, scheint einen Teil des Publikums nicht zu interessieren. Stattdessen herrscht hämische Freude darüber, mit welcher Chuzpe man die britischen Anschuldigungen pariert hat. Indem man in Großbritannien polizeilich Gesuchte im Fernsehen vorführt, sie – mehr schlecht als recht – ihre Unschuld beteuern und dann wieder gehen lässt, signalisiert man Gegenwehr.

RT ließ bereits T-Shirts mit Simonjans Frage „Arbeiten Sie für den GRU?“ drucken. Die Antwort des Verdächtigen lautete: „Sie etwa?“ Gestern veröffentlichte Simonjan auf Twitter ein Meme. „Sind Sie Tschepiga?“, fragt sie dort Boschirow/Tschepiga. „Sie etwa?“, gibt der ungerührt zurück.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Polizeisperre in jener Straße in Amesbury nahe Salisbury, wo im Juli eine Frau starb, nachdem sie mit Resten des Giftes Novichok in Berührung gekommen war, das beim Anschlag auf den Ex-Agenten Sergej Skripal in Salisbury benützt worden war.
Außenpolitik

Das Versagen der russischen Spione

Die Rechercheplattform Bellingcat will die Identität des zweiten Salisbury-Verdächtigen enthüllt haben. Diese und andere Enttarnungen bringen Militärgeheimdienst GRU in die Bredouille.
Außenpolitik

Recherche-Seite will Identität des zweiten Skripal-Attentäters enthüllt haben

Bei "Alexander Petrow" soll es sich in Wahrheit um einen Militärarzt des russischen Geheimdienstes GRU handeln. Die britische Polizei kommentiert den Bericht nicht.
Außenpolitik

Skripal soll für vier NATO-Geheimdienste gearbeitet haben

Bis 2017 soll der vergiftete Ex-Doppelagent Skripal für westliche Staaten spioniert haben - und dabei auch russische Spione verraten haben, berichtet das Magazin "Focus".
Außenpolitik

Russischer Oberst soll hinter Skripal-Anschlag stecken

Der Militärangehörige habe in Tschetschenien und der Ukraine gekämpft, berichten Medien. Eine offizielle Bestätigung, dass er für den Giftanschlag auf den Ex-Spion verantwortlich ist, gibt es nicht.
Pjotr Wersilow
Außenpolitik

Russischer Aktivist sieht Geheimdienst hinter mutmaßlicher Vergiftung

Pjotr Wersilow hält den Einsatz eines "neuen Gift-Cocktails" gegen ihn für möglich. Die Attacke stehe möglicherweise im Zusammenhang mit seinen Recherchen über drei in Zentralafrika getötete russische Journalisten.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.