Der Erfinder des digitalen Radiergummis

Hinter dieser Tür wird an Zukunftsfragen rund ums Internet getüftelt: das Oxford Internet Institute.
Hinter dieser Tür wird an Zukunftsfragen rund ums Internet getüftelt: das Oxford Internet Institute.(c) OII
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Viktor Mayer-Schönberger befasst sich in Oxford mit den Folgen des Datenzeitalters für die Wirtschaft.

„Viele Daten machen innovativ“, sagt Viktor Mayer-Schönberger. Nämlich indem Maschinen daraus völlig neue Informationen gewinnen. „Das erlaubt einen neuen Blick auf die Welt, lässt uns bessere Entscheidungen treffen“, erklärt der Datenexperte. Nicht nur etwa in der Medizin, sondern auch auf dem Markt, wo Kundenwünsche genauer bestimmt und so Mehrwert geschaffen werden kann. Damit davon aber nicht nur die Großen wie Amazon, Facebook, Google & Co profitieren, fordert er, dass diese ihre Daten mit kleineren Unternehmen teilen.

In wenigen Worten fasst Mayer-Schönberger die Essenz seines im Vorjahr veröffentlichten Buchs „Das Digital“ zusammen. Sein vier Jahre zuvor publiziertes Werk „Big Data“ ist ein Bestseller: Es wurde 1,9 Millionen Mal gedruckt und erschien in 24 Sprachen. Damit ist der österreichische Informationswissenschaftler, der aktuell am Oxford Internet Institute, einem Forschungsinstitut an der britischen Oxford-Universität, tätig ist, einer der international meistbeachteten Theoretiker rund um Zukunftsfragen zur Digitalisierung.

Der erste Computer

Dabei liebte der 1966 in Zell am See in Salzburg geborene Sohn eines Steuerberaters eigentlich die Physik, auch Medizin interessierte ihn. Vor allem aber der vom Vater früh angeschaffte Computer faszinierte ihn: „Das war einer der ersten im ganzen Bezirk.“ Als Zwölfjähriger durfte er unter Aufsicht Lochkarten nachfüllen, als Vierzehnjähriger wollte er selbst programmieren können. Nach einem Kurs schrieb er eine eigene Programmiersprache – und gewann einen österreichweiten Jugendwettbewerb. Mit 18 bekam er seinen ersten eigenen PC, mit nur 20 Jahren gründete er die Softwarefirma Ikarus mit Entwicklungsschwerpunkt Datensicherheit.

Die Studienwahl war dennoch vorbestimmt: Sowohl der Großvater als auch der Vater waren Juristen. „Das war aber nicht mein Wunsch“, sagt Mayer-Schönberger heute. Um es schnell hinter sich zu bringen, studierte er in nur sieben Semestern plus einem Tag: Den brauchte es, weil ihm die Verkürzung der Mindeststudienzeit verwehrt wurde.

Es folgten ein Masterabschluss an der Harvard Law School, USA, das Doktorat in Salzburg, ein weiterer Master an der britischen London School of Economics and Political Science. 1999 – mit 33 Jahren – wurde der Lernhungrige Professor an der Harvard Kennedy School in Cambridge, USA. Zwei Jahre später folgte die Habilitation in Graz. Dabei besann er sich auf seine Passion: Er begann, Recht und Informationstechnologien zu verbinden – heute sein inhaltliches Steckenpferd. 2008 ging er für zwei Jahre als Professor an die Uni Singapur, seit 2010 lehrt und forscht er in Oxford.

Im selben Jahr veröffentlichte er sein Buch „Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten“. Darin plädiert er dafür, dass elektronisch gespeicherte Informationen nach einer bestimmten Zeit nicht mehr leicht zugänglich sein sollen – die EU-Kommission griff die Idee 2011 auf. Dennoch ist der „digitale Radiergummi“ bis heute nur teilweise umgesetzt.

Neid vielfach Wegbegleiter

Für seine Forschung liest Mayer-Schönberger viel, er arbeitet aber auch empirisch. Gemeinsam mit Studenten analysierte er etwa das Zitiernetzwerk der US-Höchstrichter eines ganzen Jahrhunderts. Dabei bestätigte sich seine These, dass politisch links bzw. rechts orientierte Richter Fälle heute ideologischer verfolgen als früher.

In den USA hat er auch gelernt, Wissen verständlich und anregend zu vermitteln. Man müsse sich durchaus plagen, um Studenten und andere Zuhörer in Dialoge zu verwickeln und mitzureißen, aber das Resultat lohne. Das gilt auch für seine Bücher: „Etwas verklausuliert im Fachjargon zu sagen ist kein Problem. Es zu vereinfachen und auf den Punkt zu bringen ist weit schwieriger.“ Hier habe man in Österreich vielfach noch Lernbedarf. Außerdem rümpfe mancher Wissenschaftler noch immer die Nase, wenn Forschung prägnant präsentiert werde.

Zu sehr an den Bedürfnissen der Praxis orientierte Forschung sieht Mayer-Schönberger skeptisch. Diese nehme der Wissenschaft die Freiheit. Seine Empfehlung: Österreich solle lieber ergebnisoffene Grundlagenforschung stärker fördern. „Es ist richtig, ein Risiko einzugehen“, sagt er.

Muss man das Land verlassen, um in Österreich als erfolgreich wahrgenommen zu werden? Ja, meint Mayer-Schönberger. Zunächst sei man ihm überhaupt mit Neid begegnet, habe ihn lang weiter als Assistent angesprochen, obwohl er längst Professor war. Ist Neid etwas sehr Österreichisches? Auch das bejaht er: „Österreich ist ein kleines Land mit überschaubaren Optionen. Die Leute glauben, dass ihnen die anderen etwas wegnehmen. Vor allem die USA bieten da weit mehr Möglichkeiten.“

Dennoch fühlt er sich gern als Österreicher, verbringt die Wochenenden regelmäßig in Zell am See. Dort, wo er selbst aufgewachsen ist und seine Frau heute mit dem achtjährigen Sohn lebt. Als Ausgleich geht der weltweit gefragte Wissenschaftler gern mit der Familie in die Berge. Daheim wacht er über die Spiele, die der Kleine auf seinem Tablet-PC ausprobiert. Allerdings nicht ganz so rigoros wie die eigene Mutter, die 70 Jahre lang das Kino im Ort führte. „Meine Freunde durften hinein, mich ließ sie die Filme nicht anschauen.“ Denen lauschte er allerdings heimlich von seinem direkt hinter der Leinwand liegenden Zimmer.

Zur Person

Viktor Mayer-Schönberger (52) ist Informationswissenschaftler und berät Unternehmen, Regierungen und internationale Organisationen. Seit August ist er Mitglied des neu gegründeten Digitalrats der deutschen Bundesregierung.

Das Oxford Internet Institute, an dem er aktuell tätig ist, ist Teil der Universität Oxford. Ziel der britischen Forschungseinrichtung ist, die gesellschaftlichen und sozialen Folgen des Internets zu untersuchen. Mayer-Schönberger war am Montag im Rahmen der Diskussionsreihe „Geist & Gegenwart“ zu Gast in der Alten Universität in Graz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2018)

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