Zeugen der Anklage widerriefen ihre Aussagen gegen Andrew Brunson. Ankara hofft nun auf Ende des Drucks aus Washington.
Istanbul. Was haben sie ihm nicht alles vorgeworfen: Zusammenarbeit mit Terroristen, Spionage, Untergrabung der staatlichen Einheit der Türkei. Bis zu 35 Jahre Haft forderte die türkische Staatsanwaltschaft für den US-Missionar Andrew Brunson. Doch am Freitag war vor Gericht in Aliağa bei Izmir plötzlich alles anders. Reihenweise widerriefen Zeugen der Anklage ihre Aussagen gegen den Geistlichen. Am Ende entschied der Richter, dass Brunson nach Hause dürfe. Die Freilassung ist ein dringend benötigter Impuls für die krisengeplagte Wirtschaft – und ein krasses Beispiel dafür, wie die türkische Justiz von der Regierung gelenkt wird.
Der Sinneswandel der türkischen Seite hatte sich schon vor dem vierten Verhandlungstag gegen Brunson am Freitag angedeutet. Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der Brunson öffentlich attackiert hatte, betonte diesmal, er könne sich nicht in Entscheidungen der Justiz einmischen. Zugleich berichteten US-Medien über eine Abmachung zwischen der Türkei und den USA, mit der Brunson die Freiheit erhalten solle.
Brunson, der seit mehr als 20 Jahren eine kleine protestantische Kirche in Izmir leitet, ist 2016 festgenommen worden. Die Anklage hat ihm vorgeworfen, mit der Bewegung des islamischen Geistlichen Fethullah Gülen kooperiert zu haben, den Erdoğan für den Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich macht. Auch für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) soll Brunson gewirkt haben – obwohl die PKK zu Gülens Feinden zählt.
Kurs der Türkischen Lira stieg wieder
Erdoğan hat den Tausch Brunson gegen Gülen vorgeschlagen, der in den USA lebt, doch Washington hat abgelehnt. US-Präsident Donald Trump verhängte Sanktionen, die den Sturzflug der Türkischen Lira beschleunigten. In Erwartung der Freilassung des Pastors legte der Kurs Lira aber bereits in den Stunden vor der Entscheidung am Freitag wieder zu.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2018)