Die Ära der Volksparteien und berechenbarer Regierungen geht zu Ende. Das einzige Bindemittel der Großen Koalition in Berlin ist die Angst vor Neuwahlen.
Der Absturz der CSU und der SPD bei den bayerischen Landtagswahlen ist nur ein Zwischenakt in einem größeren Drama: Im mächtigsten Staat Europas neigt sich eine lange Ära der politischen Stabilität dem Ende zu. In Umfragen bringt Deutschlands Große Koalition gemeinsam gerade noch knapp über 40 Prozent auf die Waage. Das Einzige, was das nach nur sieben Monaten im Amt bereits ermattete Kabinett Merkel IV noch am Leben hält, ist die Angst vor Neuwahlen.
Die SPD blutet aus auf der Bundesregierungsbank. Abzulesen ist der prekäre Zustand des Intensivpatienten an dem Wahlpartezettel in Bayern, wo sich die Genossen halbierten und es gerade noch auf neun Prozent der Stimmen brachten. Die Sozialdemokraten haben im Freistaat praktisch aufgehört, als Volkspartei zu existieren. Dafür gibt es viele Gründe, lokale und strukturelle. Doch eines scheint gewiss: Die Regierungsbeteiligung in Berlin, in die sich die Partei zwingen ließ, wirkt wie ein schleichendes Gift. Die SPD ist nicht in der Lage, sich als Juniorpartner an der Macht zu regenerieren. Erfolgsgarantie gäbe es auch bei einem Reha-Programm in der Opposition nicht. Doch angesichts der Schmerzen, die Wahl- und Umfrageergebnisse derzeit auslösen, wird der Ruf, eine neue Heilmethode auszuprobieren, bald zum Gebrüll anschwellen.
Bis zur Landtagswahl in Hessen in zwei Wochen wollen die Sozialdemokraten die Zähne zusammenbeißen. Doch wenn die SPD auch dort, wie prognostiziert, einbricht, wird die Berliner Willy-Brandt-Zentrale einem Panikraum gleichen. Alles ist dann möglich: dass SPD-Chefin Andrea Nahles ihren Job verliert, dass die Partei aus der Koalition austritt oder dass einfach alles so weiterläuft wie bisher. Denn bei Neuwahlen müssten die Sozialdemokraten mit einem Debakel rechnen. Für ihr Dilemma gibt es keinen guten Ausweg. Sie können lediglich zwischen zwei lebensbedrohenden Szenarien wählen – und auf ein Wunder hoffen.
Die deutsche Koalition ist marod. Um ihr Leben einzuhauchen, ist dringend ein Defibrillator-Effekt nötig. Einen solchen Stromstoß ins Herz kann nur eine Regierungsumbildung bewirken. Nach einem Auswechselkandidaten müsste man nicht lang suchen: Horst Seehofer war als Bundesinnenminister eine stete Quelle für Koalitionsstreit und trägt als CSU-Vorsitzender Verantwortung für das schlechteste Ergebnis seiner erfolgsverwöhnten Partei bei bayerischen Landtagswahlen seit 1950. Doch so leicht lässt sich der 69-Jährige nicht vom Hof vertreiben.
Er müsste schon selbst Einsicht zeigen und einen Sonderparteitag einberufen, um seinen Abgang einzuleiten. Doch diesbezüglich hat Seehofer bisher keinen Eifer gezeigt. Im Stamm der Aussitzer zählt er zweifellos zu den Häuptlingen.
Das Durchhaltevermögen ist das Einzige, was ihn mit Angela Merkel verbindet. Den idealen Zeitpunkt für einen Abschied hat sie längst verpasst. Die Anzeichen für die Kanzlerinnen-Dämmerung mehren sich. Zuletzt brachte sie nicht einmal mehr ihren Kandidaten als Fraktionschef durch. Die Unruhe in der CDU steigt, sie wird sich auch nach Hessen nicht legen. Mittlerweile steht fest: Merkel wird bei der nächsten Wahl nicht mehr als Spitzenkandidatin antreten. Doch wann sie das Feld räumt, ist unklar. Auch die Christdemokraten werden sich bei den Umfragewerte hüten, eine Wahl anzuzetteln. Es gibt zwar eine „Alternative für Deutschland“, doch die CDU hat keine überzeugende Alternative für Merkel. Weder Annegret Kramp-Karrenbauer noch Jens Spahn haben bisher auch nur ansatzweise elektrisierende Eigenschaften aufblitzen lassen. Die große Krise der CDU könnte nach Merkel noch kommen.
Es sieht so aus, als sei Deutschland bis auf Weiteres zum großkoalitionären Stillstand verdammt, weil die Angst vor Veränderung zu groß ist. Doch der Umbruch lässt sich nicht aufhalten. Verspätet bricht sich ein Trend Bahn, der zwischen Italien, Frankreich und den Niederlanden längst Spuren der Verwüstung in den politischen Systemen hinterlassen hat: Das Zeitalter der Volksparteien und berechenbarer Regierungskoalitionen geht zu Ende. Auch in Deutschland. Um die Entwicklung zu bremsen, müssen sich die CDU und die SPD neu erfinden.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2018)