Die EU-Partner sind derzeit zu keinen Zugeständnissen an Theresa May bereit.
Brüssel. Noch ehe die britische Premierministerin am Mittwochabend in Brüssel im Kreise der Staats- und Regierungschefs ihre Vorschläge zur gütlichen Abwicklung des Brexits vortrug, schallte ihr eine unmissverständliche Warnung entgegen: „Leider gibt mir weder der Bericht über den Stand der Verhandlungen, den ich von Michel Barnier erhalten habe, noch die gestrige Debatte im House of Commons Anlass für Optimismus vor dem morgigen Europäischen Ratstreffen zum Brexit“, sagte Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, am Dienstag bei einer Pressekonferenz. „Wir brauchen das Gefühl, dass wir einem Durchbruch nahe sind“, fügte er hinzu. „Ich hoffe, dass Premierministerin May morgen etwas Kreatives vorstellen wird, um diesen Stillstand zu durchbrechen.“
Die irische Frage
Der Anlass des Stillstands der Verhandlungen über die Bedingungen des Austritts der Briten aus der EU ist allgemein bekannt, mahnte Tusk: „Das Problem ist klar, und es ist die irische Grenze.“ Denn fünfeinhalb Monate vor dem Inkrafttreten des Brexits ist noch immer nicht klar, wie die britische Regierung den reibungslosen Warenverkehr an der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland gewährleisten will, sobald das Vereinigte Königreich nicht mehr zur EU gehört. Für den Fall des Ausbleibens einer praktikablen Lösung aus London wollen die Europäer einen sogenannten Backstop in Kraft setzen, also eine automatische Rückfalllösung. Diese sähe vor, dass Nordirland Teil der Zollunion bliebe, weiterhin einen Großteil der Regelungen und Vorzüge des Binnenmarktes genösse und auch im Mehrwertsteuersystem der EU bliebe.
Das ist jedoch vor allem für die reaktionäre nordirische Kleinpartei DUP inakzeptabel, ohne deren Stimmen Mays Konservative in Westminster keine Mehrheit hätten. Und auch in der eigenen Partei gibt es einen Rechtsaußenflügel, der einen derartigen Verbleib Nordirlands im Wirtschaftsraum der EU als Angriff auf die nationale Souveränität des Königreichs ansähe (de facto gäbe es diesfalls ja eine neue Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs).
Keine Separatvereinbarungen
Lehnen die Briten diesen Backstop ab, ohne mit der EU eine Alternative verhandelt zu haben, kann es weder ein umfassendes Abkommen über die Bedingungen des Austritts noch eine politische Grundsatzvereinbarung über das künftige Verhältnis zwischen Union und Großbritannien geben. Das machte ein hochrangiger EU-Diplomat am Dienstag einmal mehr deutlich. Und er zerstreute auch Gerüchte, wonach einzelne Mitgliedstaaten zu Separatvereinbarungen mit London beziehungsweise einem Abrücken von der Bedeutung der irischen Frage bereit seien: „Unser Chefverhandler wird von den 27 voll unterstützt. Mein Eindruck ist: Mit jedem Gipfeltreffen wächst das Vertrauen in Barnier und die Unterstützung für ihn.“
Ob May am Mittwochabend also eine Zauberlösung aus dem Hut zieht, ist fraglich. Michel Barnier, der besagte Chefverhandler, schlug am Dienstag vor, noch ein bisschen länger zu verhandeln. Ein Sondergipfel im November ist denkbar. Unabhängig davon werden jedenfalls die Vorbereitungen für einen „harten Brexit“ intensiviert. „Wir müssen die EU auf ein No-Deal-Szenario vorbereiten, das wahrscheinlicher ist als je zuvor“, warnte Tusk in seinem Einladungsschreiben. Die Europäische Kommission bereitet seit Monaten diesbezügliche Pläne vor, die Regierungen der Mitgliedstaaten ebenfalls. Was passiert mit dem Luftverkehr? Mit dem Warentransport? Mit der Anerkennung von Führerscheinen und anderen für das Wirtschaftstreiben nötigen Befähigungsbescheinigungen? All diese Vorschriften würden ab 1. April 2019 in Großbritannien nicht mehr gelten.
Nach Mays Vortrag werden sich die 27 EU-Chefs mit Barnier zur Beratung zurückziehen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wird dann den Stand der Vorbereitungen für den harten Brexit vortragen. Ein Szenario, das er vermeiden möchte: „Kein Abkommen heißt: Katastrophe.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2018)