Wenn der Enkel an die Tür klopft

Auf 600 Seiten spannt Francesca Melandri den Bogen über 100 Jahre italienischer Geschichte – ungeschönt, detailreich und fesselnd. „Alle, außer mir“: eine Chronik von Rassismus, Flucht, Familiengeheimnissen und kolonialem Erbe.

Als der fünfjährige Attilio Profeti im Jahr 1920 mit seinen Eltern und Otello, seinem älteren Bruder, die „Internationale Mustermesse“ in Mailand besuchen darf, ist es um ihn geschehen: Dort gibt es Abteilungen wie die „Zootechnische Ausstellung“, die „Hotelindustrie“, den „Palast für Autos und Sport“ zu bestaunen – und eine „Junge Beduinin aus der Kyrenaika“. Letztere sitzt den ganzen Tag vor dem aufgebauten Zelt und kocht vor den Augen der Besucher ein traditionelles beduinisches Gericht. Der kleine Bub sieht fasziniert auf das schwarze Gesicht und beobachtet sie beim Arbeiten. Ob sie das Gericht je gegessen hat, hat er nie erfahren.

Jahre später hat sich der Schüler Attilio, statt wie sein Bruder in die Schule zu gehen, ins Kino geschlichen. In der Wochenschau wird ein Bericht aus den italienischen Kolonien in Afrika gesendet. Eine Militärparade in der Kyrenaika, 1912 von den Italienern „befriedet“, wird gezeigt, mitsamt der am Straßenrand jubelnden indigenen Bevölkerung. Plötzlich ist Attilio wie vom Donner gerührt – er meint, das Gesicht jener „Jungen Beduinin“ aus der Mustermesse wiederzuerkennen. In dem Moment wird er von einer unfassbaren Sehnsucht übermannt, und er träumt von sich in weißer Gardeuniform, bei ihm die Beduinin. So verwundert es nicht, dass sich Attilio 1935, mit 20, kurzerhand freiwillig für die faschistische Miliz meldet. Der „Duce“ Benito Mussolini hat bereits den Abessinien-Feldzug vorbereitet, Profeti ist Feuer und Flamme. Sein Studium der Geschichte und Philosophie in Bologna lässt er kurzerhand sausen. Attilio, auch Attila genannt, ist ein Abbild des italienisch stilisierten, eigentlich nordischen Übermenschen: groß, attraktiv, mit gleichmäßigen Zügen und einer einnehmenden Aura, „die Reinkarnation des wissenschaftlichen Rassismus“. So wird er nicht nur von Anfang an offensichtlich von seiner Mutter bevorzugt, auch in der Gesellschaft profitiert er stets von seiner äußeren Erscheinung.

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