Axel, Flip und Coming-out

Tillie Walden: „Pirouetten“. Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Scheer. 400 S., € 29,90 (Reprodukt, Berlin).
Tillie Walden: „Pirouetten“. Aus dem amerikanischen Englisch von Sven Scheer. 400 S., € 29,90 (Reprodukt, Berlin).(c) Reprodukt Berlin
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Jung und lesbisch. In Texas. Tillie Waldens Comic-Autobiografie einer Jugend zwischen Eiskunstlauf und verstörenden Gefühlen: „Pirouetten“, ausgezeichnet mit dem Eisner Award.

Unser Zeitalter der Selbstbespiegelung anerkennt naturgemäß nur ein einziges Erkundungsfeld: das Ich. Was wäre der Eiffelturm ohne mein Selfie-Gesicht? Was wäre die jüngste Trump-Empörung ohne meine Meinung dazu? Wohin kämen wir, wüsste die menschliche Gemeinschaft nichts über meinen Ausflug nach Sankt Kanzian am Steinbruch, über das vegane Schweinsschnitzel, das ich eben gebacken habe, und vor allem davon, dass mein Hund Putzi heute Morgen unter Durchfall litt – und in welchen Farben?

Ich autobiografiere, also bin ich, scheint denn auch auf dem Buchmarkt die Devise zu lauten, unter der tatsächliche und vermeintliche Größen all das, was sie für ihr Innerstes gehalten haben wollen, vor uns ausbreiten (lassen). Und zwar immer öfter in einem Alter, in dem höchste Anstrengung schon allein darauf verwendet werden muss, der bescheidenen Anzahl verbrachter Lebenszeit und dem noch bescheideneren Gewicht gemachter Lebenserfahrung eine auch nur halbwegs als Buch deklarierbare Seitenanzahl abzutrotzen. Von der Alpinskiheroine bis zum noch so kleinen Popsternchenlicht: Schon in den Zwanzigern wird auf Profit komm raus lebensbeschrieben, wo nichts zu beschreiben ist. Und dass ein Justin Bieber im Weisenalter von nur 18 Jahren bereits zwei sozusagen autobiografische Schriften auf dem Markt hatte, sagt alles, was in dieser Angelegenheit zu sagen ist. Oder vielleicht doch nicht?

Nun ja, auch Tillie Walden hatte die 18 erst erstaunlich knapp überschritten, als sie sich daranmachte, ihr Heranwachsen nachzuzeichnen, und das in durchaus wörtlichem Sinn. Und heute, da das Ergebnis ihrer grafischen Reflexionen auf Deutsch vorliegt, zählt die in Austin, Texas, lebende Comic-Künstlerin immer noch gerade erst 22 Jahre. Dennoch: Wohl niemand käme auf die Idee, ihrem minuziösen Nachsinnen über das Gehabte seine Relevanz, ihrem beharrlichen Bohren in ihrem Inneren die Bedeutung, ihrem doch sehr privat Konkreten eine immer wieder über jede Privatheit weit hinausreichende allgemeine Gültigkeit abzusprechen. Was Walden mittlerweile, kein Wunder, den diesjährigen Eisner Award für den besten nicht fiktiven Comic eingetragen hat.

Walden ist fünf, als sie mit dem Eiskunstlauf beginnt. Ihre Kindheit und Jugend wird ab da von quälenden Trainingseinheiten in notgedrungen frostigen Hallen, von den nicht weniger frostigen Blicken der Mütter anderer Eiskunstlaufkinder, von der beständigen Furcht vor dem Versagen in Wettbewerben geprägt. Und es wird nicht allzu lang dauern, bis sie auch in ganz anderen Belangen erkennen muss, anders als die anderen zu sein. In Waldens Worten: „Die erste Liebe ist für jeden etwas Besonderes. Aber wenn man jung und lesbisch ist und das Coming-out noch vor einem liegt, ist es noch einmal etwas ganz Spezielles.“

Ihre Mitschülerin Rae ist es, an die sich diese ihre erste Liebe richtet. Eine erste Liebe, die erwidert wird. Doch eine erste Liebe ohne die viel bemühten Schmetterlinge im Bauch, ohne jedes Gefühl von Befreiung, begleitet von einer einzigen Emotion: Angst. „Angst, weil ich lesbisch war. Angst, weil wir in Texas waren. Angst vor all dem Hass, den ich aus YouTube-Videos kannte und von dem ich wusste, dass er real war.“ Wobei man keineswegs in Texas zu Hause sein muss, um diesen Hass fürchten zu dürfen, so man nicht dem strikten Kanon des gesellschaftlich als Norm Wahrgenommenen gehorcht.

Es kommt, wie es nachgerade kommen muss: Dass die Beziehung der beiden Teenager ein gutes Stück weit über platonisches Händchenhalten hinausgeht, wird dank der indiskret-investigativen Bemühungen von Raes Mutter ruchbar, jeder weitere Kontakt unterbunden, und die kaum 15-Jährige Tillie Walden sieht sich zu einem Schritt genötigt, den sie sich ebenso fest vorgenommen wie ebenso sicher erst für einen späteren Zeitpunkt geplant hat: „Ich hatte vorgehabt, mich mit 16 zu outen. Ich dachte, dann wäre ich so weit. Aber jetzt blieb mir keine Wahl.“ Die Reaktionen der Umwelt: irgendwo zwischen ungläubigem Staunen, Irritation und kaum verhüllter Abscheu. Mehrheitlich wohl Ausdruck einer ähnlichen Verunsicherung, wie sie Walden selbst, in ganz anderer Weise, durch dieses auch unter komfortableren Umständen stets verwirrende Lebensalter treibt. Und in der sie ausgerechnet in jener Tätigkeit Halt findet, die ihr von Tag zu Tag qualvoller erscheint: dem Eiskunstlauf mit seinen ritualisierten Abläufen und Figuren. Zwischen Salchow und Lutz, zwischen Flip und Axel verlieren sich die Zumutungen der Welt und, ja, auch die Zumutungen der eigenen Gefühle.

Tillie Waldens „Pirouetten“: ein sensibles Selbstbild, sensibel nicht nur für die eigenen Nöte, sensibel auch für jene, die diese Nöte begleiten, sei es mit Empathie, sei es mit Unverständnis, sei es von der eigenen Not blind gemacht für die Nöte anderer, all das in klare Linien gefasst, die auf seltsame Weise die Kälte der Eishalle genauso einzufangen vermögen wie die Zerbrechlichkeit jugendlicher Empfindungen jenseits dessen, was als „gesellschaftsfähig“ wahrgenommen wird – seitens der Gesellschaft wie seitens der Betroffenen selbst. Weithin in monochrome Bläulichkeit getaucht, nur da und dort ergänzt durch gelbe Farbakzente, in stupendem Wechsel zwischen vielsagendem Detail und großem Ganzen, entsteht das Bild einer weit ausgreifenden Verstörung, wie sie das uns befremdlich Scheinende in uns auslöst, auch das Befremdliche in uns selbst.

Sie werde immer wieder gefragt, worum es in ihrem Buch gehe, berichtet Tillie Walden: „Und nach wie vor antworte ich: ,Ums Eislaufen.‘“ Warum? „Weil das die einfachste Antwort ist.“ Die nicht ganz so einfache Antwort wäre ein ganzes Jugendlichenleben lang, gefasst in 400 der womöglich stillsten und dabei bewegendsten Seiten, die dieses Comic-Jahr zu bieten hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2018)

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