Der Essigbaum, die Schönheitskönigin des Herbstes

Der Essigbaum zeigt im Herbst noch einmal seine Schönheit.
Der Essigbaum zeigt im Herbst noch einmal seine Schönheit. (c) Ute Woltron
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Diesen Titel verdient jetzt im Herbst eindeutig der knallig gelb-rote geschlitztblättrige Essigbaum.

Manchen Pflanzen begegnet man idealerweise bereits als Kind, wenn man noch ein neugieriges kleines Tier ist, das alles betasten und erforschen will und das Strukturen und Zusammenhänge erkennt, die dem erwachsenen, bereits geschulten und an der Hastigkeit des Alltags erblindeten Auge verborgen bleiben. Mit diesen Gewächsen schließt der kleine Mensch nicht selten eine Freundschaft, die ein Leben lang fortdauert.

Eines dieser Geschöpfe steht in den prachtvollen – und von Ihnen, geschätzte Leserinnen, geschätzter Leser, hoffentlich in vollen, dankbaren Zügen genossenen Herbsttagen wie eine im Augenblick eingefrorene Farbexplosion in Rot und Gelb im Garten. Der Essigbaum, so könnte man meinen, dreht in dieser letzten Phase des Jahres so richtig auf und signalisiert mit knallig gefärbten Herbstblättern: „Schaut mich an und erkennt, wie prächtig ich bin!“

Das hiesige Exemplar gedeiht seit Jahrzehnten auf dem denkbar schlechtesten Sonnenplatz des Grundstücks. Der kleine Baum wurzelt praktisch in Schotter und Fels und wurde sein Lebtag noch nie gegossen oder gedüngt. Über die Jahre hat er sich trotzdem zu einer knorrigen, aparten Erscheinung ausgewachsen, mit bizarr geschwungenen, weit ausladenden Ästen, die so tief herabhängen, dass sie im Sommer ein lauschig grünes Zelt bilden. Ein ideales Kinderversteck übrigens.

Die herbstliche Farbenorgie des Rhus typhina ist auch in der Erwachsenenwelt legendär spektakulär, und die Sorte „Dissecta“, auch Geschlitztblättriger Essigbaum genannt, räumt unter all den Essigbäumen den ersten Preis als Schönheitskönig ab. Seine Blätter wirken wie fein gezackte Farnwedel, und die beliebte Kinderbeschäftigung, die bunten Blätter des Herbstes zu pressen und damit zu konservieren, erweist sich in seinem Fall als Geduldsprobe, will man die Wedel wirklich sorgfältig und ohne Knickungen in die Zweidimensionalität zwingen.

Von Kinderfingern mühselig zurechtgerückte Blattstrukturen prägen sich genauso ein wie die samtig weiche Rinde, mit denen der Baum im Frühjahr seine jungen Triebe umhüllt. Hirschkolbensumach wird er deshalb auch genannt, weil die neuen Äste diesen weichen Flausch tragen wie das junge Hirschgeweih den Bast.


Wunder der Natur. Einer der einflussreichsten Architekten und Designer des 20. Jahrhunderts war eigentlich zum Kunstschmied ausgebildet worden. Doch Jean Prouvé, 1901 in Nancy geboren und 1984 ebendort verstorben, hatte das Glück, in eine zwar wenig begüterte, doch an Kunstsinn reiche Familie geboren zu sein. Die Mutter Pianistin, der Vater Maler. Letzterer brachte ihm bereits als Kind bei, auf die Details zu achten und so die Wunder der Natur zu ergründen.

Eines Tages reichte er ihm beispielsweise eine Rose und wies auf die raffinierte Struktur der Dornen hin, die in botanisch korrekter Terminologie bekanntlich Stacheln sind. Er trug dem Sohn auf, ihren eleganten Schwung und die raffinierte Art und Weise, wie die Auswüchse auf der Rinde saßen, zu bewundern. Er brachte ihm nichts mehr und nichts weniger bei, als aufmerksam zu sein und scheinbar einfache Dinge zu ergründen. Prouvés Konstruktionen, ob Architektur oder Mobiliar, sind diese Logik und größtmögliche Sinnhaftigkeit der Struktur deutlich abzulesen, was ihnen eine robuste Zeitlosigkeit eingetragen hat. In ihnen vereinigen sich die Tugenden des Handwerks mit jenen der industriellen Fabrikation.

Der Essigbaum, so schön und genügsam er ist, trägt jedoch auch eine Untugend in sich: Er vermehrt sich mächtig über Wurzeltriebe. Steht er irgendwo im Rasen, ist das kein Problem, weil die kleinen weichen Triebe einfach mit dem Rasenmäher abgesäbelt werden können. In zierlicheren Gartenarrangements können die Essigbaumkinder jedoch zwischen anderen Pflanzen zur Plage werden, und auch wenn ein Baum gefällt wird, so treiben die im Boden verbliebenen Wurzeln noch Jahre später immer wieder aus. Wenn das stört, muss man sich mit einer Wurzelsperre behelfen oder im Frühling Geduld beweisen.

Sumachgewächs

Als Sumachgewächs könnte der Essigbaum die Aufmerksamkeit von Gourmets erwecken, doch das säuerliche, aus den Fruchtständen gewonnene Gewürz stammt von einem Verwandten, und zwar vom mediterranen Gerbersumach. Also nicht kosten, sondern nur betrachten. Das funktioniert auch im großen Pflanzgefäß hervorragend, in dem der zierliche Baum auch auf Balkonen und Terrassen gedeiht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2018)


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